Christus spricht: „Ich bin der gute Hirte…“
(Johannes 10,11)

Ihr Lieben,

das linke Fensterbild in unserer Kirche zeigt einen Hirten.
Gemalt wurde es von einem Künstler der Nazarener-Schule, eingefügt als Glasfenster hier in der Kirche wohl 1896.
Da steht ein Hirte in einer lieblichen Landschaft mit üppiger Vegetation, fast italienisch anmutend – eine Sehnsuchtslandschaft. Er trägt ein kleines Schaf auf seinen Schultern. Hirtenromantik als Hintergrund für Aussagen der Bibel.
Vielleicht denken Sie dabei an den 23. Psalm: „Der Herr ist mein Hirte“.
Oder an Jesus, der von sich sagte: „Ich bin der gute Hirte!“
Das Fensterbild zeigt tatsächlich einen guten Hirten… eine aufrechte Gestalt mit freundlichem Blick. Mit sanfter Geste trägt er das kleine Schaf auf seiner Schulter…
Mit dem Bild vom Hirten und seinen Schafen wurde seit Jahrtausenden eine fürsorgliche und liebevolle Beziehung zwischen Gott und Mensch ausgedrückt.

Moderne Generationen schauen eher skeptisch auf dieses Motiv. Wer möchte schon gern ein Schaf sein? Passiv? Schwach? Bösen Mächten wehrlos ausgeliefert. Auf Schutz durch einen Stärkeren angewiesen… Und doch stecken uralte religiöse Aussagen im Bild vom Guten Hirten. – Was tat denn ein Hirte zur Zeit Jesu:

Wie geht es uns beim Betrachten dieses Bildes?
Tut uns der Frieden gut, der von ihm ausgeht? Oder regen sich Widerstände?
Wir sind ja keine Kleinkinder mehr, die getragen werden.
Um unsere Existenz müssen wir uns selbst kümmern, Geld verdienen, unseren Broterwerb sichern – für manche gerade jetzt eine große bange Frage.
Wir müssen die jeweiligen Schritte in unserem Leben selbst gehen, uns gegen bedrohliche Situationen wehren oder uns Hilfe suchen.
Auch die Menschen zur Zeit Jesu mussten das. Doch schon im Neuen Testament wurde das Bild vom guten Hirten gleichnishaft verstanden. Im 1. Petrusbrief 2, 25 heißt es: „Ihr wart wie die irrenden Schafe, jetzt habt ihr euch hingewandt zum Hirten und Hüter eurer Seelen“ – Jesus als Seelenhirte. Also einer, der für die Seelen sorgt.

Dazu möchte ich 5 Gedanken äußern:

1) Jesus stärkte ihre Seelen durch hilfreiche Worte und Gesten – wovon nähren wir momentan unsere Seelen? Je mehr wir uns in uns selbst zurückziehen und nur noch auf Statistiken starren, umso größer wird die Gefahr, in unserer Angst zu versinken. Von welchem Hirten lassen wir uns den Weg zeigen neben den Virologen?

2) Bei Jesus erlebten sie Schutz vor bedrohlichen Mächten, wie wenn ein Hirte den Wolf abwehrt. In seiner Nähe wurden Menschen frei von Angst –
Wie schützen wir uns in diesen Tagen gegenüber Verschwörungstheorien aller Art? Oder gegenüber Neid, wenn es anderen vermeintlich besser geht als uns? Gegenüber Gier, die zu Hamsterkäufen führt? Gegenüber Düsternis im Herzen?
Von wem lassen wir uns helfen gegen die Stimmen der Angst? Von Ärzten? Therapeutinnen? Von Musik? Von gemeinsamem Singen auf dem Balkon?
Von der täglichen Bibellese? Gottes Stimme verspricht uns: Ich bin jetzt bei dir und will dir beistehen bei all dem, was du durchmachst.

3) Jesus suchte „verirrte Menschen“ wie ein guter Hirte verirrte Schafe.
Als Menschen können wir uns in vielem verlieren: in verschiedenen Weltdeutungen, in Diagrammen und Prognosen, in Phobien, in Einsamkeit, in übergroßer Sorge… Was ist Ihre größte Angst? Genau da hinein spricht die Stimme des guten Hirten.
Ich höre sie sagen „Ich bin durch den Tod gegangen – ins Leben. Jetzt bin ich an deiner Seite und begleite dich. Schritt für Schritt durch diese Krise hindurch. Schau auf die Sonne, den Frühling, all das, was dir gegeben ist: das täglich Brot, deine Mitmenschen, alle Zeichen von Solidarität. – Ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende. Mal gehe ich euch voran, mal bin ich an eurer Seite.
Und manchmal trage ich euch. Niemals seid ihr allein.“

4) Der gute Hirte trägt das verletzte Tier.
Vielleicht bis zu seinem Rastplatz, wo er Verbandszeug hat. Dort kann die Wunde versorgt werden. Auch so erlebten die Menschen Jesus – als begnadeten Heiler.
Heute erwarten wir die Heilung in der Regel von Ärzten.
Wir Menschen sind meist froh, wenn wir autark und nicht auf Hilfe angewiesen sind. Und doch spüren wir gerade jetzt, wie verwundbar wir sind. So greift dieses Bild tiefe Sehnsüchte auf: Durch die Krise getragen zu werden – das wäre doch etwas! Tatsächlich müssen wir selbst gehen, Schritt für Schritt.
Doch wie tröstlich für schwer kranke Menschen: der gute Hirte bleibt an ihrer Seite. „Der dich behütet, schläft nicht.“

5) Der gute Hirte trägt nach Hause.
So wie der Schafhirte seine Tiere am Abend ins sichere Gehege führt, ist der göttliche Hirte auch am Lebensabend für seine Menschenkinder da.
Die Coronakrise konfrontiert uns mit unserer eigenen Sterblichkeit wie schon lange nichts mehr. Im Bild des guten Hirten steckt Hoffnung auch für unser Sterben:
So wie der Hirte sein Schäfchen nach Hause trägt, so begleitet der Seelenhirte die Seele ins himmlische Zuhause. Tiefer Trost für unsere Lieben, an deren Gräbern wir gestanden haben oder vielleicht noch stehen werden.

Liebe Mitmenschen,

vor 2 Wochen feierten wir Ostern. „Geht, und verkündigt, dass Jesus lebt!“ ermutigte der Engel die Frauen und schickte sie vom Grab Jesu weg in ihre Heimat.
Vom Todesort zurück ins Leben.
Für Christen beginnt die neue Woche jeweils am Sonntag. Wegen der Auferstehung.
Lasst uns in diesem Wissen in die nächsten Tage gehen.
Lasst uns dabei selbst für andere zu guten Hirten und Hirtinnen werden.
Lasst uns Trost weitergeben statt Düsternis. Hoffnung statt Verzweiflung.
Liebe statt Feindseligkeit.
Einander begleiten trotz äußerer Abstände und manchmal auch – bildlich gesehen – einander tragen.
Amen.

Lied „Ich bin in guten Händen“ (Melodie „Wohl denen, die da wandeln“)