Liebe Gemeinde!

Zu einem Abendgottesdienst gehören Abendlieder. Eines der bekanntesten soll heute im Mittelpunkt der Betrachtung stehen.

„Nun ruhen alle Wälder / Vieh, Menschen, Städt und Felder / es schläft die ganze Welt.“ Dieser beschauliche Blick auf eine so friedvolle Welt hat etwas, was uns für ihn gewinnt. Dabei geht es nicht allein um den Wunsch ungestört und schmerzfrei schlafen zu können. Grenzt die beschriebene Idylle (unterstützt von der Melodie des Liedes) an Kitsch? – Ich glaube zu spüren, dass diesen gesungenen Versen ein Kraft innewohnt, an der ich gerne Anteil hätte.

Paul Gerhardt hat das Lied während der letzten Jahre des 30jährigen Krieges gedichtet. Ein Ende dieses sich hinziehenden und grausamen Krieges war noch immer nicht abzusehen. Die Stadt Berlin, in der er seit Kurzem als Hauslehrer lebte, hatte mehr als die Hälfte ihrer Einwohner verloren – an den Krieg, die Pest und die Pocken. Und die das alles bis hierher überstanden hatten, lebten ganz und gar nicht in Sicherheit.

Gerhardt hat nicht nur ein schönes Abendlied geschaffen, er hat die Vision von einem umfassenden Frieden formuliert. Und mit ihr den Anspruch auf Frieden gestellt.

Wenn wir jetzt von diesem Lied die 1. Strophe singen, wollen wir uns nicht nur auf eine geruhsame Nacht einstellen. Wir teilen auch des Dichters Sehnsucht nach Frieden.

1

Nun ruhen alle Wälder,
Vieh, Menschen, Städt und Felder,
Es schläft die ganze Welt;
Ihr aber, meine Sinnen,
Auf, auf, ihr sollt beginnen,
Was eurem Schöpfer wohl gefällt.

Friedrich der Große, der König, hat sich lustig gemacht über dieses Lied. Er fragte, wo es denn diese Welt gäbe, in der es überall zum selben Zeitpunkt finster wird und alle auf einmal ins Bett gehen und schlafen. Er spielte nicht nur auf seine Aufgeklärtheit an, sondern ebenfalls auf seine Toleranz: Selbstverständlich dürfe man dieses Lied weiterhin singen, auch wenn dessen Verfasser offenbar noch immer geglaubt habe, die Erde sei eine Scheibe. Wenn sie denn Frieden fänden dabei, die Untertanen …

Universitätsprofessoren haben sich darüber verwundert gezeigt, dass eine planlose und willkürliche Aufzählung von Dingen, die nicht viel miteinander zu hätten, einen solchen Anklang fände: „Vieh, Menschen, Städt und Felder“ und schließlich gleich „die ganze Welt“.
Sie hat das starke poetische Bild, der dringende Wunsch des Dichters – dass alles zur Ruhe kommt, jeder seinen Frieden findet und das weltweit ! – nicht erreicht.

Ganz anders Friedrich Schiller. Er kannte das Lied von daheim.  Dankbar erinnerte er sich, dass seine Mutter Dichtungen Paul Gerhardts ihm vertraut gemacht und er dabei »Nun ruhen alle Wälder« besonders liebgewonnen hat.

Paul Gerhardt singt die Welt nicht nur in Schlaf. Er lädt uns alle, die wir das Lied so gern singen, dazu ein: „Auf, auf, ihr sollt beginnen, was eurem Schöpfer wohl gefällt.“ Worum handelt es sich dabei? Womit sollten wir beginnen zu so später Stunde („wenn alle Welt zur Ruhe gekommen ist“)? Was gefiele denn dem Schöpfer so sehr?

Die Antwort ist einfach. Das tun, was der Dichter tut: Nämlich alles bedenken, was mir widerfahren ist im Laufe des Tages, was ich außer Acht gelassen habe oder gar vergaß, wenn ich mich erregen, irritieren oder gar ärgern ließ von dem, was mir das Leben zumutet oder was ich befürchte.
Worum es sich dabei handelt, davon singen die folgenden Strophen des Liedes.

Die 2. Strophe. – Das bringt sie zur Sprache:

Seit fast 30 Jahren scheint keine Sonne. Keine Sonne der wohligen Wärme, des klaren Lichts. Die Nacht des Krieges hat sie vertrieben. Das Land, die Städte sind geschändet. Viele Menschen haben ihr Leben verloren. Sie sind Opfer von Kriegshandlungen und auch der wütenden Seuchen geworden: Pocken und Pest. Die Würde des Menschen wurde im Wortsinn mit Füßen getreten, niedergebrannt oder in Jauche erstickt.
Die Nacht des wütenden Krieges bestimmt noch immer das Leben der Leute. Seit fast 30 Jahren herrscht sie und bestimmt alles: Die Nacht des Krieges – die Feindin des Friedens.

Schlägt man sich bei Tag durch alle Zumutungen des realen Alltags hindurch, fallen alle Hast und quälenden Befürchtungen von einem ab – und kommt man dann am Abend zur Ruhe, sehnt man sich nur nach dem Einen: nach Frieden.
Aufatmen können. Keinen plötzlichen Überfall fürchten müssen; nicht mehr beeinträchtigt sein von den schleichenden Folgen des Krieges.

„Fahr hin!“, sagt der Dichter zum Krieg. Geh endlich zuende! – fleht jeder Mensch, der sich einer entsprechenden Lage befindet. – Doch ein Ende ist noch immer nicht in Sicht.

Was aber hält einen solange am Leben? Wie kann man weiter durchhalten und gar bestehen? – Paul Gerhardt klammert sich an Jesus. Er kennt ihn, er nennt ihn gar „meine Wonne“. Wenn einem nahezu alles genommen ist, nichts auf berechtigte Hoffnung deutet, geht das noch immer: Ihm vertrauen. — Wie aber soll das gehen? — Er ist die Alternative zur täglich erfahrenen Wirklichkeit. (Ich weiß es: ‚Alternative‘ ist heute schon beinahe ein Reizwort, aber es ist das passende in dieser Situation.)

Nicht „Auge um Auge und Zahn um Zahn“ – sondern: „Liebe deinen Nächsten.“ Habe ein Auge auf ihn (nicht nur auf dein eigenes Unbehagen oder gar deine Not!) und frage danach, wie es ihm geht.

Paul Gerhardt behauptet, dass bei aller täglichen Not und Aussichtslosigkeit dieser Jesus und seine Maxime „in seinem Herzen scheint.“ – also Licht ins alles umgebende Dunkel bringt.

Es scheint tatsächlich zu gehen: Der Willkür der herrschenden Verhältnisse ausgesetzt zu sein UND den Nächsten zu lieben – damit man nicht auch noch an sich selbst verzweifeln muss. „Einer trage des anderen Last“, sagt dieser Jesus und lebt es vor. Er kann davon befreien, dass man nur auf das eigene Unheil starrt. – Je mehr Menschen in seinen Blick – und in den seiner Nachfolger – geraten, um so mehr Menschen erfahren, dass sie nicht ganz und gar verloren und vergessen sind.
Und wer sich entschließt, wie dieser Jesus zu leben und zu handeln, erfährt, dass er oder sie nicht nur „Opfer von Verhältnissen“ ist.

Wir singen Strophe 2.

Wo bist du, Sonne, blieben?
Die Nacht hat dich vertrieben,
Die Nacht, des Tages Feind.
Fahr hin! Ein andre Sonne,
Mein Jesus, meine Wonne,
Gar hell in meinem Herzen scheint.

3

Es gibt vieles, was mir zusetzt, was mich und mein Leben bedroht, ja es einschränkt und begrenzt. Paul Gerhardt weiß es , und er spricht es aus: Meine Lebenszeit ist ohnehin begrenzt, meine Gesundheit fragil. – So wahr der Himmel blau ist und die güldenen Sternlein leuchten!

Dennoch: Der Anspruch, den das Lied stellt, hat mit der Würde des Menschen zu tun:
Nicht „vor der Zeit“ abfahren müssen! – In Würde sterben dürfen, zum rechten Zeitpunkt, und dann vielleicht gar einwilligen können. – Ja, ich lebe auf mein Ende hin, aber bis dahin sollte ich ein Leben führen dürfen, das den Namen „Leben“ verdient. (Gar nicht zu schweigen vom erfüllten, vom „ewigen“ Leben!)

Wo den Menschen das strittig gemacht oder genommen wird, handelt es sich um ein Jammertal. – Doch die Schöpfung ist zu etwas anderem berufen! Daran erinnert uns alle der Anblick des „blauen Himmelssaales“.
Wer einmal da oben herumfahren durfte, hat es gesehen: Auch die Erde ist „blau“ wie der Himmelssaal. Seitdem wird sie der „blaue Planet“ genannt. Sie ist offensichtlich nicht zum „Jammertal“ bestimmt.

Wir singen die 3. Strophe:

Der Tag ist nun vergangen,
Die güldnen Sterne prangen
Am blauen Himmelssaal;
Also werd ich auch stehen,
Wann mich wird heißen gehen
Mein Gott aus diesem Jammertal.

4

Emsige Kontrolleure des gottesdienstlichen Geschehens haben in weit zurückliegenden Zeiten einmal herausgefunden: Dieses Lied habe keinerlei liturgische Funktion und Bedeutung. Es sei (wörtliches Zitat!) ein „reines Auszieh- und Zubettgehlied“. Deshalb gehöre es nicht in den Gottesdienst, sondern aus den Gesangbüchern entfernt.

Nun, sie haben sich nicht durchsetzen können. Wenn das Befinden der Menschen, deren Wohl, Wehe und Wünsche im Gottesdienst nichts zu suchen haben sollen, was gehört denn dann dorthin?

Die 4. Strophe erzählt tatsächlich vom Ausziehen und Zubettgehen. Kleider, Jeans und Schuhe ablegen – für den erholsamen Schlaf.
Zugleich erinnert sie noch einmal an unsere Sterblichkeit. Dass wir einmal sterben werden, das gehört auch in Friedenszeiten zu unserem Befinden.
Und dann stellt der Text dieser Strophe uns vor Augen: Einmal werde ich mich nicht selbst entkleiden. Dann werden es andere tun. Um mich zur ewigen Ruhe zu betten…
Und bis dahin???

Kleider und Schuhe kann man mir nehmen. Sie können zerschleißen. Was ist dann „mein eigentliches Gewand“? Woraus besteht der „Rock der Ehr und Herrlichkeit“ – das GEWAND MEINER WÜRDE?
Christus verleiht es und legt es uns an. Paul Gerhardt spricht noch einmal an, worauf er bereits in aller Deutlichkeit hingewiesen hat: Leben und Lieben wie er. Dazu beitragen, dass andere mehr vom Leben haben und ihre Würde behalten oder zurückgewinnen können. – Wer sich dazu entschließt, erfährt, wozu er und sie in diesem Leben (das – ja – das ein Jammertal sein kann) gebraucht werden. – Wer so handelt, erfährt seine eigene Kostbarkeit, weil er im anderen dessen Kostbarkeit erkennt. Wer anderen ein Segen ist, wird selbst gesegnet sein – das weiß schon das Alte Testament.

Singen wir also Strophe 4!

Der Leib eilt nun zur Ruhe,
Legt ab das Kleid und Schuhe,
Das Bild der Sterblichkeit;
Die zieh ich aus, dagegen
Wird Christus mir anlegen
Den Rock der Ehr und Herrlichkeit.

8

Nun machen wir einen Sprung im Lied und wenden uns der 8. Strophe zu. Der vielleicht bekanntesten Strophe des Liedes – Hier begegnet uns DAS beliebte Bild: Die Glucke, die ihre Kücken beschützt, in dem sie sie unter ihre Flügel nimmt und dort birgt.

Uns heranwachsenden Schlingeln im Internat war dieses Bild manchmal „zu lieblich, zu schön“. Da haben wir so getan, als wäre von einem Huhn die Rede, das in der Konditorei sitzt und dort „sein Küchlein einnimmt“. Diese Vorstellung hat uns erheitert, – dabei haben wir alle uns zugleich danach gesehnt – GENAU SO! – beschützt und bewahrt zu werden!

Jeder Mensch sehnt sich danach. Auch dann, wenn er es nicht zugibt. Das Leben ist mitunter hart, und die Wege sind selten mit Rosen bestreut. Das wissen wir ja.
Der Wunsch, das Bedürfnis nach Schutz, den ich mir nicht selber schaffen kann, sind uns allen eigen.

Der wahnwitzige Vorschlag eines weltbekannten Politikers: „Bewaffnet Lehrer und Schüler, dann können sie sich im Fall eines Amoklaufes selbst verteidigen!“ Man spiele in Gedanken nur einmal ganz kurz durch, was er da meint, – dann führt sich diese Idee selbst ad absurdum.

Das sagt ausgerechnet der, der sich mit einem ganzen Schwarm von Personenschützern umgibt, weil er weiß, dass er sich allein nicht helfen kann.

Wir alle brauchen Schutz und haben das Bedürfnis, in Sicherheit zu leben. Dazu gehört der äußere Friede, der zwischen Nachbarn, Kollegen, Staaten und ehemaligen, bzw. gegenwärtigen Feinden.

Dazu gehört aber auch der innere.

„Wo die Engel singen“, sagt Paul Gerhardt, dort ist Frieden. Wo die Sache Gottes Leben und Alltag bestimmt.

Satan, der „altböse Feind“ ist dort ziemlich machtlos, wo die „Sache Gottes“ im Herzen wohnt. — Das weiß der Liederdichter; das hat er oft genug erfahren. Und deshalb wagt er auf mehr zu hoffen!

Wir singen Strophe 8:

Breit aus die Flügel beide,
O Jesu, meine Freude,
Und nimm dein Küchlein ein!
Will Satan mich verschlingen,
So lass die Englein singen:
Dies Kind soll unverletzet sein.

9

Diesen inneren Frieden finden alle, die nicht allein um sich selber Sorge tragen. Nicht nur MICH soll heute „kein Unfall noch Gefahr“ betrüben – sondern all jene, die in meinen Gedanken sind! Die Aller-Nächsten und alle Nächsten. Sozusagen.
Dass ich das nicht vergesse, dass mir gegenwärtig bleibt, was ich diesbezüglich weiß und bereits erfahren habe und dass es Gottes Wille und Jesu Weg ist, dass das so geschieht – dazu dient die Stunde der Selbstbesinnung vor dem Zubettgehen, – von der der Dichter bereits in der 1. Strophe seines Liedes spricht: „beginnt, was euerm Schöpfer wohl gefällt“ …

Wir singen nun Strophe 9!

Auch euch, ihr meine Lieben,
Soll heute nicht betrüben
Kein Unfall noch Gefahr.
Gott laß euch selig schlafen,
Stell euch die güldnen Waffen
Ums Bett und seiner Engel Schar.

Bei den „güldenen Waffen“, die ums Bett gestellt werden sollen, handelt es sich nicht um die Revolver der Personenschützer und die Gewehre der Scharfschützen. Die „Schar der Engel“ ist keine „GSG 9“.

„Engel kann man gar nicht genug haben“, hat mir dieser Tage ein Freund geschrieben. Wer oder was ist ein Engel? Wie viele sind tatsächlich um mich herum? Keiner kann sagen: „Du hast sechs Engel, ich aber sieben!“ Man kann sie nicht zählen. Manchmal, manchmal kann man einen erkennen. Auf jeden Fall gehören zu ihnen:

Das gute Gewissen, das Bewusstsein, dass ich mich selbst um Frieden mühe (im Kleinen und vielleicht auch im Großen), sowie die Hoffnung und die Zuversicht, dass nach dem Willen Gottes – entgegen jeder Wahrscheinlichkeit – immer mehr (oder doch: immer wieder) FRIEDEN ZUSTANDE KOMMT: – Und dann all jene, die ich gar nicht erkenne, ohne die ich aber ganz gewiss auf der Strecke bliebe.
Sie aber mögen mich davor bewahren. AMEN.

Danke, Paul Gerhardt!
Der Organist improvisiert nun über die Melodie des Liedes.
Und wir, wir hören ihm zu.