Liebe Gemeinde,

das Jahr 2020, das mancher am liebsten aus dem Kalender streichen würde, ist vor wenigen Stunden zu Ende gegangen. Das Jahr 2021 ist jetzt schon 15 Stunden alt. Silvester und Neujahr sind eine Scharnierstellen zwischen Altem um Neuem, zwischen dem, was war und dem, was in der Zukunft kommen soll. Wir bilanzieren dieses vergangene Jahr und gehen mit eher vorsichtigen Erwartungen in das neue Jahr hinein. Frei und unbeschwert erleben wohl die wenigsten diesen Jahreswechsel. Die vergangenen Monate der Pandemiesituation haben allen im Land – ja weltweit – Rücksicht, Einschränkungen, Verzicht und vieles andere – zum Schutz aller abverlangt. Aber dieser Verzicht, diese Einschränkungen sind eines höheren Gutes wegen erfolgt. Die Kinder im Vorschulalter, Schüler, Berufstätige, Selbstständige, Mitarbeiter im Kulturbereich, in der Gastronomie, ältere Menschen in der Häuslichkeit oder in einer Senioreneinrichtung – durch alle Lebensbereiche hindurch sind wir aufgefordert oder gar rechtlich verpflichtet gewesen, auf bestimmte Dinge zu verzichten, unsere Freiheit aus eigener Freiheit heraus und aus der Verantwortung für andere und sich selbst zu beschränken. Die Freiheit unserer Gesellschaft war dabei nie ernsthaft gefährdet, so wie das unter den Schlagwort „Corona-Diktatur“ von Alexander Gauland und der AfD behauptet wurde.

Aber aus der Freiheit heraus sich einzuschränken, ist etwas völlig anderes. Wer sich aus Freiheit heraus selbst einschränkt, gibt damit zu verstehen, dass er über der Situation steht und dass er andere wahrnimmt. Ja und selbst unter äußerlich unfreien Verhältnissen kann ich mir meine innere Freiheit bewahren. Das haben mutige und aufrichtige Menschen in jeder Diktatur bezeugt, wobei ich damit nichts an Diktaturen schönreden will.

Auf eigene Freiheiten verzichten, dazu scheinen mir zwei Dinge notwendig: Die eigene innere Freiheit und die Fähigkeit, andere umfassend wahrzunehmen. Beides begegnet im Bibeltext für den heutigen Gottesdienst. Es ist ein Abschnitt aus dem Brief an die Gemeinde in Philippi. Paulus schreibt ihn aus dem Gefängnis. Wir wissen nicht genau, wo Paulus inhaftiert ist. Da die Informationen zwischen ihm und der Gemeinde in Philippi relativ schnell hin- und herlaufen, befindet er sich vielleicht in Kolosäa und Ephesus1. Paulus muss mit allem rechnen, auch damit, dass er diese Haft nicht überlebt und hingerichtet wird (Phil. 1,20). Wohl aber bekommt Paulus Besuch. Der Besuch bringt Grüße und Unterstützung von der Gemeinde, die Paulus am liebsten ist: die Gemeinde in Philippi. Und so antwortet er den Christen dort – keine Worte der Klage, sondern des Dankes:

10 Als jemand, der wie ihr zum Herrn gehört, habe ich mich wirklich sehr gefreut! Endlich hattet ihr einmal die Möglichkeit, mich und meine Arbeit kräftig zu unterstützen. Ihr hattet das ja schon immer vor, aber es gab keine Gelegenheit dazu.
11 Ich sage das nicht, weil ich in Not bin. Ich habe nämlich gelernt, in jeder Lage allein zurechtzukommen: 12 Ich kenne den Mangel, ich kenne auch den Überfluss. Alles und jedes ist mir vertraut: das Sattsein wie der Hunger, der Überfluss wie die Not. 13 Ich bin allem gewachsen durch den, der mich stark macht. (Basis-Bibel).

Paulus sitzt im Gefängnis. Es ging ihm verständlicher Weise nicht besonders gut. Er hatte wirklich schon bessere Zeiten erlebt. Als man an seinen Lippen gehangen hatte. Als man ihm Gastfreundschaft erwiesen hatte. Als man ihm aus der Ferne Grüße, Geschenke, Nahrungsmittel überbrachte – damals. Und jetzt – da erreicht ihn nach längerer Zeit im Gefängnis die Unterstützung der Gemeinde aus Philippi, die ihm ein Gemeindeglied überbringt (vielleicht Nahrung, warme Decken, Garderobe und ein paar persönliche Dinge).

Was fällt auf: Da ist zuerst das Wahrnehmen und Wahrgenommen-werden. „Ich hab mich riesig (megalos) gefreut.“ schreibt Paulus wörtlich. Die Größe der Hilfe spielt dabei wohl gar nicht die Rolle. So wie sich Paulus am Beginn des Briefes in die Situation der Gemeinde hineinversetzt und seine Freude mitteilt, dass die Gemeinde sich gefestigt hat, im Glauben wächst, in der Liebe, so spürt er: Sie, die Gemeinde versetzt sich in seine Situation, kümmert sich um ihn ganz praktisch und denkt im Gebet an ihn.

Ganz ähnliches haben wir in den zurückliegenden Monaten immer wieder erlebt. Menschen innerhalb und außerhalb der Gemeinde haben sich hineinversetzt in das Leben anderer und Ideen entwickelt, wie sie helfen, entlasten können – gerade auch in Phasen des harten Lockdowns. Die alleinerziehende Mutter im Home-Office, die zudem auch noch das Home-Schooling der Kinder zu leisten hat, entlasten. Ich kann das, ich war doch Lehrerin. Ich kümmere mich um die Kinder und in unseren Garten können sie auch. Briefe-Schreiben oder Anrufen bei Seniorenheim-Bewohnern oder ihnen ermöglichen, mit ihren Lieben per Video zu telefonieren. Den kleinen Lieblingsladen unterstützen und seine Produkte an Freunde verschenken. Künstlern und Musikern ein Podium geben und vieles mehr. Jeder hat von solchen Aktionen gehört oder ist selbst mit seinen Möglichkeiten aktiv geworden. Und er hat damit das Zeichen gesendet: Ich will wissen, wie es dir geht und dir helfen. Du sollst nicht allein bleiben mit deinen Sorgen. – Gelebte Mitmenschlichkeit.

Paulus ist äußerlich unfrei, isoliert, im Gefängnis. Aber er ist innerlich frei. Das kommt nicht daher, dass er sich etwa dem Ideal des stoischen Gelehrten durch besondere Anstrengung, durch Einübung in Selbstbeherrschung und Gelassenheit genähert hat. Wir wissen aus anderen Zusammenhängen: Paulus kann sehr emotional sein, mit Widersachern hart ins Gericht ziehen usw. Er ist kein Mann, der stoisch unaufgeregt durch die Welt geht. Die Freiheit, die Unabhängigkeit, von der Paulus redet, war auch nicht mit einem Mal da. Paulus schreibt: Ich habe es gelernt, unabhängig zu sein (αυταρκησ) „Ich habe gelernt.“ Es ist nicht immer so gewesen. Dazu hat Zeit gehört. Das war ein Lernprozess.

Ich musste es erst lernen, meine Zuversicht unabhängig von äußeren Lebensumständen zu machen. Das Wort αυταρκησ ist in den deutschen Sprachgebrauch übergegangen. Den Wunsch, unabhängig zu sein, sein Leben vollständig selbst gestalten zu können, frei von Zwängen und äußeren Umständen sein Leben zu leben, den kennen viele. Unabhängiger von anderen Mitmenschen, von Chefs und Nachbarn, von den Befindlichkeiten anderer, von gesellschaftlichen Normen und Erwartungen sein – das passt in unsere Zeit. Der moderne Mensch versteht sich mehr denn je als Individuum, versteht leicht jeden Abstrich an seiner persönlichen Freiheit als schweren Eingriff.

Wer aber völlig autark leben möchte, der ist dann auch voll verantwortlich für alles in seinem Leben. So werden ja gewisse Erfolgsgeschichten heutzutage immer einmal erzählt: Du musst nur die richtige Methode, die richtige Technik konsequent anwenden, dann kommst du mit absoluter Gewissheit zum entsprechenden Glück und Erfolg.

Die Autarkie, die Unabhängigkeit, von der Paulus spricht, ist aber eine ganz andere. Paulus sagt sinngemäß: „Ich kann Hohes und Tiefes, Gutes und Schlechtes aushalten. Ich kann mit Satt-sein und Hunger, mit Überfluss und Not umgehen. Es bestimmt mich nicht.“ Und dann kommt der entscheidende Satz: „Ich bin allem gewachsen durch den, der mich stark macht.“ Die Kraft, sich von den Dingen unabhängig zu machen, kommt nicht aus Paulus selbst, sondern von dem, der ihm dazu die Kraft gibt. Die bekannte Luther-Übersetzung „Ich vermag alles für den, der mich mächtig macht.“ trägt zu stark auf. Das klingt nach allmächtig. Wörtlich steht dort im Griechischen „Ich bin stark durch den, der mich stark macht, der mir die Kraft dazu gibt.“ Durch den, der mir die δψναμισ dazu gibt. Ohne dieses „Woher“ seiner Kraft wäre Paulus heillos verloren.

Paulus lebt aus keiner absoluten Unabhängigkeit, sondern aus einer Unabhängigkeit in Abhängigkeit zu Gott.

Paulus betont weiter, dass er sich auf alles einstellen kann, mit allem irgendwie zurechtkommt. Das heißt aber noch lange nicht, dass es ihn nicht berühren würde. Wer in seiner Berufung als Apostel aus der Stadt geprügelt, gesteinigt, ins Gefängnis geworfen, von Freunden fallengelassen, dabei noch krank wird und dann auch immer noch zwischen den Fronten steht, der wäre ein eigenartiges Wesen, wenn er das alles stoisch und ohne jede Gefühlsregung ertragen würde.

Nein, es lässt ihn nicht kalt. Doch es bestimmt ihn nicht. Es bestimmt nicht sein Leben. Er kann das alles aushalten, Hohes und Tiefes, Gutes und Schlechtes, durch den, der ihm dazu die Kraft gibt. Es ist eine Unabhängigkeit in Abhängigkeit zu Gott, oder kürzer gesagt: Es ist das Vertrauen, der Glaube. Ich vertraue darauf, dass Gott mir dazu die Kraft gibt, mich von den Umständen nicht unterkriegen zu lassen.

Auch am Ende des alten und dem Beginn des neuen Jahres kommen wir wieder einmal auf die einfachen grundlegenden Dinge des Glaubens zurück. Und das heißt hier: Vertrauen, auf Gott vertrauen.

Wenn ich diese Basis, diesen Grund habe, dann kann ich mich von all diesen Abhängigkeiten unabhängiger, freier machen. Von Dietrich Bonhoeffer gibt es eine Art Glaubensbekenntnis – im Gefängnis geschrieben:

„Ich glaube, dass Gott uns in jeder Notlage so viel Widerstandskraft geben will, wie wir brauchen. Aber er gibt sie nicht im Voraus, damit wir uns nicht auf uns selbst, sondern allein auf ihn verlassen. In solchem Glauben müsste alle Angst vor der Zukunft überwunden sein.“ (Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung S. 30)

Keiner von uns würde sich wohl mit Paulus oder Dietrich Bonhoeffer vergleichen wollen, die ihr Leben für ihren Glauben eingesetzt haben. Da ist die Fallhöhe zu hoch. Doch Glauben, Vertrauen jeden Tag neu zu leben und einzuüben, das liegt für jeden von uns vor den Füßen. Und dieser Glaube – tagtäglich eingeübt, tagtäglich praktiziert, der kann uns frei machen von falschen Abhängigkeiten.

Als Christen haben wir die größte denkbare Freiheit geschenkt bekommen. Denn die größte Freiheit besteht ja nicht darin, dass ich tun und lassen kann, was ich will. Zu echten Freiheit gehört auch, dass ich die Freiheit habe, auf Teile meiner Freiheit zu verzichten.

In einer der reformatorischen Hauptschriften Martin Luthers „Von der Freiheit eines Christen­menschen“ (1520) gibt es die zwei scheinbar gegensätzlichen Sätze: Ein Christen­mensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan. Ein Christenmensch ist ein dienst­barer Knecht aller Dinge und jedermann untertan. Frei sind wir im Blick auf Gott und den Glauben. In diesen letzten Dingen sind wir niemanden untertan, sondern nur Gott gegenüber verantwortlich.

Freiheit ist immer nur dann Freiheit, wenn sie nicht gegen den Nächsten, sondern mit dem Nächsten zusammen gedacht wird. Zu dieser Freiheit gehört auch, dass ich im Blick auf den Nächsten frei bin, meine Freiheit einzuschränken, „ein dienstbarer Knecht“ des anderen zu werden. Wir sind frei, unsere Gaben und Fähigkeiten zu entwickeln, mutig voran zu gehen, mit Freude an unseren Stärken – und erkennen zugleich in den Menschen, die uns begegnen, Gottes Gegenüber, auf die wir Rücksicht nehmen.

Die Stärke, die Kraft, diese Freiheit und die Spannung, die darin liegt, zu leben – dürfen wir uns Tag für Tag von Gott erbitten. Sie ist nicht mit einem Male da. Aber wir erleben Erstaun­liches, wir erleben, wie Gott uns verwandeln, dazu befähigen kann. Wer hätte wohl gedacht, dass es möglich sein würde, wochenlang mit fast keinem Sozialkontakt auszukommen, Home-Office und Home-Schooling gemeinsam hinzubekommen. Wer hätte gedacht, dass es so viel solidarisches Handeln in unserer Gesellschaft gibt? Wer hätte gedacht, welche Kreativität unter den Menschen unseres Landes, in den Städten, Dörfern, in den Kirchgemeinden vorhanden ist, mit dieser Krise umzugehen? Da sind viele über sich hinausgewachsen und haben eine Kraft entdeckt, die gar nicht aus ihnen selbst zu kommen schien. „Ich bin stark durch den, der mir die Kraft dazu gibt.“ – Wenn wir das miteinander erlebt haben, dann können wir auch darauf vertrauen und vertrauen lernen, dass uns diese Kraft auch durch das Jahr 2021 trägt. Amen.


1 Nicht in Rom oder Cäsarea Philippi (Ulrich B. Müller: Der Brief des Paulus an die Philipper, Leipzig Evangelische Verlagsanstalt 1993 S. 15-21)