Predigt von Pfarrerin Maria Heinke-Probst
für den
Gottesdienst im Gedenken an
80 Jahre Zerstörung von Dresden sowie an
80 Jahre Kriegsende im Mai 1945
9. Februar 2025, 10 Uhr
Bundesarchiv, Bild 183-60015-0002 / Giso Löwe / CC-BY-SA 3.0
Kirchenmusik:
R. Mauersberger: „Wie liegt die Stadt so wüst“
H. Schütz „Verleih uns Frieden“
F. M. Bartholdy „Hör mein Bitten“
unter uns sitzt ein Mann, der am 15. Februar 1945 hier in Dresden geboren wurde – Reinhard Bruchhold. Vor 3 Tagen erzählte er mir davon, wie seine Mutter,
die eigentlich in der Johannstadt entbinden wollte, am 14. Februar noch nach Hellerau hinauflief. Er überreichte mir 2 Briefe von ihr; und ich darf daraus zitieren.
Da schrieb sie an ihren Mann über ihr Erleben am 13. Februar:
Früh ein lichter Morgen, ein echter Frühlingstag. Und abends 20 Minuten vor 10 Uhr gehen die Sirenen und das Radio sagt an, dass die Bomberwellen kurz vor Dresden sind. Alles hinter zum Keller … und schon geht das Getöse los, immerwährend und endlos. 20 Minuten lang ohne Unterbrechung … Die Neustadt brannte lichterloh, Sarrasani in hellen Flammen. Und auch hinter uns das Gericht brannte, das Feuer war entfesselt …
Schon hieß es, wir müssten wegen der großen Feuersgefahr aus dem Haus heraus, als nochmals diese Bomber kamen … Schlag auf Schlag 25 Minuten krachen, bersten, explodieren! Wir lagen auf den Kellersteinen, das ganze Denken war ausgelöscht.
Nur an das Kind, das ich im Leibe trug, musste ich denken …
Das ganze Geschehen war wie ein Untergang, wie eine Sintflut war es über unsere Stadt hinweggegangen. Durch einen Mauerdurchbruch gelangten wir ins Freie – alles, alles brannte … Der 14. Februar war angebrochen, und ich musste mich zur Ruhe zwingen des Kindes wegen. Schon wie es bissel hell wurde, nahm ich meinen kleinen Koffer …
und machte mich auf den Weg.
Am nächsten Tag brachte sie ihr Kind in Hellerau zur Welt – Reinhard. Jedes Jahr an Reinhards Geburtstag wurde davon erzählt. Ein besonders Dresdner Schicksal!
Der damalige Kreuzkantor Rudolf Mauersberger lag in jener Nacht des 13. Februar auf der Wiese vor der Kreuzschule flach auf dem Boden, als die Sprengbomben niedergingen.
»Ich bin wie durch ein Wunder aus der Hölle entronnen«, schrieb Mauersberger später. Doch er trug schwer, u.a. am Tod von elfen seiner Kruzianer.
Damals suchte er Zuflucht in seinem erzgebirgischen Heimatort Mauersberg.
Und ebenso in der Musik. Am Karfreitag 1945 las er dort in den Klageliedern Jeremias.
Darin beklagt der Prophet die gewaltigen Zerstörungen Jerusalems während der Babylonischen Kriege. Was Jeremia über Jerusalem schrieb, stand Mauersberger von Dresden her vor Augen: die Stadt als Flammenmeer, später als Ruinen-Wüste, Tote und Trümmer überall. „Wie liegt die Stadt so wüst?“ – so beginnt – angelehnt an Jeremia – die gleichnamige, von Rudolf Mauersberger in jenen Tagen komponierte Motette.
„Sie hätte nicht gedacht, dass es ihr zuletzt so gehen würde“ – da zitiert er Klagelieder 1,9.
Tatsächlich hielten damals die meisten Einheimischen eine Zerstörung von Dresden für undenkbar: diese schöne Stadt, diese wunderbare Kultur, Elbflorenz … – Zunehmend strömten ja auch Flüchtlinge in die Stadt. Und war der Krieg nicht schon entschieden?!
Klagen und Trauern. Mit jener Motette erhielt die Trauer einen tiefen Ausdruck
in Worten und Tönen. Auch die Warum-Frage stellte Mauersberger – Gott gegenüber –
als Zitat von Klagelieder 5,20: „Warum willst du unser so ganz vergessen und uns lebenslang so gar verlassen?“
Der Prophet Jeremia suchte allerdings auch nach Antworten: z.B. in Vers 18: „Ich bin seinem Worte ungehorsam gewesen.“ Solche Antworten gibt die Motette nicht.
Vielleicht war es dem traumatisierten Komponisten so kurz danach noch nicht möglich, über das eigene Leid hinaus auch auf das Leid anderer zu sehen – auf die schon wesentlich vorher von Deutschen zerstörten Städte, auf die seit Jahren auf unterschiedliche Weise durch das NS-Regime verfolgten und getöteten Menschen, auf die Millionen ermordeten Juden, zumeist vergast … Der Sturm, den Hitlerdeutschland entfacht hatte, kehrte nach Hause zurück.
Auch daran denken wir heute: an das Kriegsende vor 80 Jahren.
Noch knapp 3 Monate zogen sich die Kämpfe hin, wurden manche Städte wild verteidigt, flohen Menschen aus dem Osten, nahmen die alliierten Armeen Landstrich um Landstrich ein, wurde das Innere Deutschlands immer mehr zu einer chaotischen Szenerie aus Ruinen, Verwundeten und Flüchtlingen. Am 30. April, als die Rote Armee in Berlin einzog, nahm sich Adolf Hitler im Führerbunker das Leben. Am 7. Mai kapitulierte die Deutsche Wehrmacht gegenüber den westlichen Alliierten, am 9. Mai gegenüber der sowjetischen Armee;
der Tag dazwischen gilt als das offizielle Kriegsende. –
Endlich schwiegen die Waffen. Endlich hörte das Töten auf, nachdem mehr als 60 Millionen Menschen gestorben waren. Endlich durften die ersten Gefangenen heimkehren,
manche auch erst viel später. Endlich kein Bombenalarm mehr.
Endlich Ruhe nach 6 Jahren Krieg, Stille nach dem Sturm.
Hier möchte ich eine eigene familiäre Überlieferung einflechten, von meinem Vater:
1944 wurde er noch als 15-Jähriger eingezogen.
Anhand von Notizen aus der Kriegszeit schrieb er später seine Erinnerungen auf:
Am 4. Mai 1945 bestiegen sie mit ihrer Kompanie ein Schiff, das von der pommerschen Küste aus Kopenhagen ansteuerte; doch auf der Ostsee wurden sie gefangen genommen.
Mein Vater schrieb: _Nach mehreren Tagen staunen wir, als wir eine hell erleuchtete Stadt sehen. Wir erfahren, dass es die schwedische Stadt Malmö ist.
Dort gibt es keine Verdunklung. Nach 7 Jahren eine hell erleuchtete Stadt! Wir fahren weiter bis Kopenhagen. Dort erfahren wir, dass Hitler sich das Leben genommen hat._
Eine Wirrnis an Gefühlen durchzieht uns. Negativ bis zu einer Art Genugtuung.
Auch die Frage nach Gott spielt eine Rolle. Hat Gott so gesprochen?
Nun also die große Stille. Die Ruhe nach dem Sturm.
Als Evangelium hörten wir heute die Geschichte von der Sturmstillung nach Markus.
Dieses früheste Evangelium entstand tatsächlich im Angesicht eines furchtbaren Krieges.
In den Jahren 67–70 n. Chr. tobte der sogenannte Jüdische Krieg in Judäa und Galiläa,
in dem durch das römische Heer vieles im Land völlig zerstört wurde (darunter auch Jerusalem mit dem Tempel).
Kurz danach entstand das Markus-Evangelium, das sich an Jesus Christus klammert – ein ungeheuer kraftvolles Glaubensdokument.
Es ermutigt dazu, trotz allem mit Gott zu rechnen und sich Jesus anzuvertrauen.
Da erzählt Markus von einer Fahrt der Jünger mit Jesus im Boot über den See Genezareth. Ein großer Sturm kommt auf, der sie in panische Ängste stürzt.
Verzweifelt wenden sich die Jünger an Jesus und wecken den offensichtlich Schlafenden.
Der erhebt sich und gebietet den Gewalten. Eine große Stille setzt ein. –
Jene große Stille bildet das Zentrum der Erzählung.
Die große Stille als Zeit der Besinnung.
Vielleicht durchzogen von der Frage Jesu: „Warum seid ihr so kleingläubig?!“
Von einer Antwort erzählt die Geschichte nichts. Wer würde denn nicht schreien inmitten von Todesangst und wenn das Wasser schon ins Boot schwappt … ?! –
Doch etwas ist danach anders: nach der Stille und der Besinnung brechen die Jünger gestärkt nochmals mit dem Boot auf – ans andere Ufer, in unbekannte Gefilde. –
Kriegsende 1945, die Stunde Null. – Vor 80 Jahren waren die Menschen mit dem Überleben beschäftigt: etwas zu essen finden, Häuser reparieren, Vermisste suchen … Nur wenige hatten die Kraft und den Mut, sich der eigenen Verantwortung für das Geschehene zu stellen.
Im Oktober 1945 formulierte die Evangelische Kirche in Deutschland die bekannte Stuttgarter Schulderklärung.
Doch die allgemeine gesellschaftliche Reflexion des Geschehenen brauchte Jahrzehnte.
Nur für Einzelne wurde die Warum-Frage an Gott zur Suche nach der eigenen Verantwortung, z.B. für den Schriftsteller Heinrich Böll in seinem 1951 erschienenen Roman „Wo warst du, Adam?“, in dem er die Unmenschlichkeit und Sinnlosigkeit des Krieges verarbeitet.
„Wo warst du, Adam?“ – Jene Frage entspricht der Frage Gottes im Garten Eden „Adam, wo bist du?“, nachdem Adam von der verbotenen Frucht gegessen hatte, sich schämte und vor Gott versteckte. Dabei wusste doch Gott um alles.
„Wo warst du?“, als das NS-Regime seine Macht zu entfalten begann und auf barbarische Weise immer mehr Menschen ausgrenzte und verfolgte?
80 Jahre Kriegsende.
Manchmal frage ich mich, wie Dietrich Bonhoeffer wohl das Kriegsende geistlich gedeutet hätte, er, der mutige Theologie und Gegner des Nationalsozialismus, der 4 Wochen vorher noch im KZ Flossenbürg hingerichtet wurde.
Im Mai 1944 formulierte er in einem Brief aus der Haft in Berlin-Tegel: „Unser Christsein wird heute nur in zweierlei bestehen: im Beten und im Tun des Gerechten unter den Menschen.“ – Und während uns neuerdings schreckliche Kriege den Atem nehmen und anderen das Leben – in Osteuropa wie im Nahen Osten – sehe ich genau diese Aufgabe deutlich vor uns liegen:
Einerseits uns immer wieder, auch in Gefahr, Gott anzuvertrauen, zu beten, auch zu schreien, wenn wir mitunter den Eindruck haben, Gott würde schlafen.
Andererseits selbst im Namen Jesu zu Frieden und Gerechtigkeit beizutragen,
wo immer wir können. Als Gottes Werkzeuge, die am Frieden hämmern, schmieden, feilen, die sich um Verständigung bemühen und um Kompromisse, die das Gespräch suchen und den kleinsten gemeinsamen Nenner, denn „Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein.“ –
„Selig sind die Frieden stiften, denn sie werden Gottes Kinder heißen.“
Amen
EG 657, 1.3.6 „Damit aus Fremden Freunde werden“