Predigt zum 16. Sonntag nach Trinitatis

über Markus 4, 35-41 „Die Stillung des Sturmes“

35 Und am Abend desselben Tages sprach er zu ihnen: Lasst uns ans andre Ufer fahren. 36 Und sie ließen das Volk gehen und nahmen ihn mit, wie er im Boot war, und es waren noch andere Boote bei ihm. 37 Und es erhob sich ein großer Windwirbel, und die Wellen schlugen in das Boot, sodass das Boot schon voll wurde. 38 Und er war hinten im Boot und schlief auf einem Kissen. Und sie weckten ihn auf und sprachen zu ihm: Meister, fragst du nichts danach, dass wir umkommen? 39 Und er stand auf und bedrohte den Wind und sprach zu dem Meer: Schweig! Verstumme! Und der Wind legte sich und es ward eine große Stille. 40 Und er sprach zu ihnen: Was seid ihr so furchtsam? Habt ihr noch keinen Glauben? 41 Und sie fürchteten sich sehr und sprachen untereinander: Wer ist der, dass ihm Wind und Meer gehorsam sind!

Liebe Gemeinde,

Blitze zucken am Himmel über dem See Genezareth.
Und für einen Augenblick sind sie zu sehen: die mächtigen Wellen,
die unaufhörlich auf das kleine Boot zu rollen.

Der Sturm hat schon lange das kleine Segel zerfetzt.
Jeder Brecher wirft neues Wasser ins Boot.

Dreizehn Männer sind an Bord.
Zehn Männer rudern um ihr Leben.
Zwei schöpfen das Wasser aus dem Boot.
Einer schläft.
Das ist Jesus.

Die Lage scheint aussichtslos.
Kein Wunder, dass Petrus die Nerven verliert.
Er rüttelt Jesus wach.

Er schreit ihm seine Enttäuschung,
seine Angst und seine Wut ins Gesicht:

„Kümmert es dich nicht, dass wir umkommen?“

Jesus antwortet nicht sofort.
Zuerst bringt er Sturm und Wellen zum Schweigen.
Keiner weiß wie.
Aber alle staunen.

Dann antwortet Jesus mit zwei Fragen:

Warum habt ihr solche Angst?
Habt ihr noch keinen Glauben?

Die Fragen bleiben stehen –
zunächst damals auf dem See von Genezareth, und
bis heute im Buch des Evangelisten Markus.

Szenenwechsel

Lange schon reden sie miteinander.
Sie sitzen nebeneinander auf einem Trümmerhaufen –
der Student und die Krankenpflegeschülerin.

Ihr Gespräch gewinnt unerwartet an Tiefe, als der junge Mann sagt:
Es bewegt mich sehr, dass nach zwanzig Jahren ein Teil eures
Krankenhauses immer noch zerstört ist.

Und das Seltsamste ist, dass die Trümmer hier genauso riechen
wie die Trümmer in meiner Heimatstadt Coventry.

Weil sie nicht weiß, was sie darauf antworten soll,
erzählt die junge Frau von ihrem Leben in der DDR.

Sie spricht von ihren inneren Kämpfen.
Sie erzählt davon, dass sie sich fremd fühlt in dem Land,
das eigentlich ihre Heimat sein soll.

Sie verschweigt auch nicht, wie sehr es ihr zusetzt,
dass sie aufgrund ihres Glaubens an Jesus angegriffen und
benachteiligt wird.

Sogar von ihren Gebeten berichtet sie.
Wie oft hatte sie Gott im Gebet gefragt:

Macht es dir gar nichts aus, wie es uns Christen hier geht?
Macht es dir nichts aus, dass die kaputten Kirchen nicht
wiederaufgebaut werden können?
Macht es dir gar nichts aus, dass unversehrte Kirchen
gesprengt werden und
dass noch nicht einmal unser Krankenhaus
wiederaufgebaut werden kann?
Macht dir das nichts aus?

Auf einmal schaut sie ihrem Gesprächspartner direkt ins Gesicht
und lächelt.
Ihre Stimme hat ihren scharfen Ton verloren, als sie sagt:

„Aber jetzt seid ihr ja da.
Ich habe es bis zuletzt nicht geglaubt,
dass sie euch reinlassen.
Ihr seid hier, und
gemeinsam beseitigen wir die Spuren
dieses fürchterlichen Krieges.
Gemeinsam bauen wir etwas Neues.
Ich hoffe so sehr, dass es eine neue Zukunft ist.
Mit neuen und heilen Beziehungen zwischen
Deutschen und Engländern.“

Ihr Gegenüber hat ihr aufmerksam zugehört.
Er nickt.
Dann sagt er:

Am 14. November 1940 fielen 8 Stunden lang
Bomben auf Coventry.
568 Menschen starben.
Fast die ganze Stadt war danach ein Trümmerfeld.
Und dann wurde es Weihnachten.
Damals hat die BBC den Weihnachtsgottesdienst aus der
zerstörten St. Michael’s Cathedral übertragen.
Dean Richard Howard sagte damals:
Heute Morgen haben wir in den Ruinen dieser 600 Jahre
alten Kirche den Tag mit einer Abendmahlsfeier begonnen.
Wir wollen Christus genauso freudig verehren,
wie wir es immer getan haben.
Was wir der Welt sagen wollen, ist folgendes:
Weil Christus heute in unserem Herzen neu geboren wird,
versuchen wir – so schwierig das auch sein mag –
alle Gedanken an Vergeltung zu verbannen…
Wir werden eine freundlichere, einfachere,
eine mehr christkindgemäße Welt in den Tagen jenseits der
Fehde zu gestalten versuchen.“

„Und genau das machen wir jetzt!“
Die junge Frau stand auf und begann,
die Arbeitsgeräte zusammen zu suchen.

Noch einmal hielt sie inne und sagte:

„Eben noch war so viel Angst in mir.
Und ich konnte schon gar nicht mehr glauben,
dass es noch einmal anders wird.
Aber jetzt weiß ich, es kümmert Gott sehr wohl,
wenn Menschen sich gegenseitig Unrecht tun.
Die Bomben dieses Krieges brennen Gott auf der Haut.
Aber seine Antwort ist nicht Vergeltung.
Seine Antwort ist Vergebung, Versöhnung und Frieden.“

Szenenwechsel

Ich sitze an meinem Schreibtisch.
Vor mir liegt die Bibel.
Ich lese den Predigttext für heute.
Ich kenne den Text gut.
Er löst Bilder in mir aus…

Blitze zucken am Himmel über dem Mittelmeer.
Für einen Augenblick sind sie zu sehen: die mächtigen Wellen,
die unaufhörlich auf das kleine Boot zurollen.
Jeder Brecher wirft neues Wasser ins Boot.
Der kleine Motor am Boot gibt schon seit Stunden
keinen Mucks mehr von sich.
Zwei Männer versuchen trotzdem, ihn wieder in Gang zu bringen.
Andere schöpfen Wasser aus dem Boot.
Wieder andere versuchen, die Kinder zu beruhigen.
Die Lage scheint aussichtslos.

Ein Mann kniet vorne am Bug.
Er reißt die Arme in die Luft und schreit in den Sturm:

Hör auf!
Sei Still!
Ich beschwöre dich!

Nur mit Mühe kann er sich im Boot halten,
als eine Welle gegen das Boot knallt.
Noch einmal schreit er in das Tosen:

Gott, kümmert es dich gar nicht, dass wir umkommen?

Nach der nächsten Welle ist sein Platz leer.
Als die Sonne am nächsten Morgen aufgeht,
finden Spaziergänger am Strand ein totes Kind – Alan Kurdi.

Unwillkürlich frage ich mich:

Wo ist Jesus?

Ich sehe ihn nicht.
Wie auch?
Die meiste der Flüchtlinge sind Muslime.
Da sitzt der gekreuzigte Gottessohn sicher nicht mit im Boot.
Oder doch?

Auf alle Fälle sitzt aber der Prophet Isa, der Sohn der Maria,
mit im Boot.

Und jetzt höre ich auch seine Stimme.
Sie klingt wie die Stimme des Mannes im Flüchtlingsboot.
Sie fragt mich:

Kümmert es dich nicht, dass wir umkommen?

Doch, es kümmert mich.
Und was ich gesehen habe, tut mir im Herzen weh.
Was aber kann ich antworten?

Ja, das Boot, in dem ich sitze und lebe, ist nicht voll.
Es ist noch Platz.
Aber auch uns steht ein scharfer Wind entgegen.
Und Wellen rollen gegen uns an.
Wellen aus allen Nachrichtenkanälen.

Sie erschüttern mich und unser Boot.
Es sind die Nachrichten

Über dieselben Kanäle erreichen mich auch
Bilder und Wortfetzen von Menschen in Dresden,
die ihren Hass ungeschützt herausschreien.

Und dann sind da auch noch die kleineren Wellen aus dem privaten Bereich,

Und auch unser Kirchenboot schlingert mächtig.
Wird es irgendwann sinken – wen kümmert‘s?
Keine wirklichen Wellen sind das und auch kein wirklicher Sturm –
ich weiß.
Und doch sind sie sehr real.

Sie machen mir Sorgen und Angst.
Und ich denke:
Da kann ich doch nichts machen.
Ich doch nicht.

Und wir auch nicht, wir paar Hanseln
aus den Gemeinden und Gemeinschaften.

Immer noch sitze ich am Schreibtisch.
Immer noch liegt die Bibel aufgeschlagen vor mir.

Ich lese noch einmal.
Und ich höre, wie mich die göttliche Stimme fragt:

Warum seid ihr so furchtsam?
Habt ihr noch keinen Glauben?

Während eine Träne auf das dünne Papier fällt,
bete ich:

Vater vergib!

Amen.