Predigt zum 14. Sonntag nach Trinitatis

über Lukas 19, 1-10 „Der andere Blick“

1 Und er ging nach Jericho hinein und zog hindurch. 2 Und siehe, da war ein Mann mit Namen Zachäus, der war ein Oberer der Zöllner und war reich. 3 Und er begehrte, Jesus zu sehen, wer er wäre, und konnte es nicht wegen der Menge; denn er war klein von Gestalt. 4 Und er lief voraus und stieg auf einen Maulbeerfeigenbaum, um ihn zu sehen; denn dort sollte er durchkommen. 5 Und als Jesus an die Stelle kam, sah er auf und sprach zu ihm: Zachäus, steig eilend herunter; denn ich muss heute in deinem Haus einkehren. 6 Und er stieg eilend herunter und nahm ihn auf mit Freuden.

7 Da sie das sahen, murrten sie alle und sprachen: Bei einem Sünder ist er eingekehrt. 8 Zachäus aber trat herzu und sprach zu dem Herrn: Siehe, Herr, die Hälfte von meinem Besitz gebe ich den Armen, und wenn ich jemanden betrogen habe, so gebe ich es vierfach zurück. 9 Jesus aber sprach zu ihm: Heute ist diesem Hause Heil widerfahren, denn auch er ist ein Sohn Abrahams. 10 Denn der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist.

Liebe Gemeinde,

als Predigttext liegt die Geschichte von Zachäus zugrunde, die wir als Evangelium hörten.
Die Geschichte einer unerwarteten Lebenswende.
Jesus ging nach Jericho und zog hindurch. Und siehe, da war ein Mann mit Namen Zachäus, der war ein Oberer der Zöllner und war reich.
Jesus durchquert eine Stadt, in der viele Leute unterwegs sind. Nur einer wird sprachlich herausgehoben: als „Oberer der Zöllner“ und „reich“. Damit scheint alles gesagt zu sein. Schublade auf, Mensch rein. Drin ist er.
Die Leute damals hörten unterschwellig mit: also keiner von uns, der sitzt oben im Apparat. Dort geht nicht alles rechtens zu: hier etwas mehr einstreichen als nötig, dort sich bestechen lassen… und die arbeiten mit den Römern zusammen.
Korrumpierbare, bestechliche Leute. Kennst du einen, kennst du alle… –
Misstrauische Blicke können ihm sicher sein, diesem Zachäus.

Und er begehrte Jesus zu sehen, wer er wäre, und konnte es nicht wegen der Menge;
denn er war klein von Gestalt. Und er lief voraus und stieg auf einen Maulbeerfeigenbaum, um ihn zu sehen; denn er sollte dort durchkommen.
Zachäus hat von Jesus gehört und will ihn sehen. Wahrscheinlich erhofft er sich nichts Besonderes, keine tiefe Botschaft. Nur mal einen Blick erhaschen. Einen besonderen Moment einfangen im Alltag seines Lebens, das aus teilweise unlauterer Arbeit und Besitz-Vermehrung besteht. An Geld mangelt es ihm nicht. Aber etwas bleibt offen.
Leider verdecken ihm die Leute die Sicht. Jemanden ansprechen mag er nicht.
Bitten wird er niemanden. Sie meiden ihn. Dass sie im Alltag einen großen Bogen um ihn machen, die Blicke, das Getuschel… Damit lebt er, so gut er kann.
Könnte sich auch einigeln zu Hause. Nur noch im Dunkeln zur Arbeit gehen.
Doch etwas treibt ihn nach draußen. Nur einmal kurz Jesus sehen: Da, der Maulbeerbaum.
Ich stelle mir vor, wie er Anlauf nimmt und sich an den Ästen hinauf zieht.
Da steht er nun, durch’s Blattwerk geschützt. An einer freien Stelle lugt er hindurch.
Hier wird er in Ruhe verfolgen können, welchen Weg Jesus durch die Stadt nimmt, wie er aussieht, was so passiert… dabei langsam sein Mittagbrot kauen und schließlich zurückschlendern in seine Amtsstube.
Dann die Einnahmen der Zollstationen überwachen, jeweils ein bisschen dazunotieren,
ein paar alternative Fakten an die Römer weitergeben und daran gut verdienen.
Wenigstens darauf kann er zählen. Sein Vermögen wächst.

Und als Jesus an die Stelle kam, sah er auf und sprach zu ihm: „Zachäus“
Pardon, Zachäus, aber ab jetzt verläuft alles anders als gedacht.
Jesus nimmt seinen Weg nicht an jenem Baum vorbei. Er bleibt stehen.
Er sieht hinauf zu Zachäus zwischen den Ästen. Er sieht ihn.
Was hätte er an dieser Stelle sagen können? „Na, ein besonderes Plätzchen gesucht, alter Oberaufseher“, das wäre noch harmlos. „Betrüger. Ausbeuter, Kollaborateur“ – so wie sie es manchmal nachts unter seinem Fenster rufen.
„Zachäus“, sagt Jesus. – Ob Zachäus zusammengezuckt ist? Wieso sein Name? Woher kennt ihn Jesus? Was sieht er in ihm?

„Zachäus, steig eilend herunter; denn ich muss heute in deinem Hause einkehren.“
Heute, jetzt, eilend… Was? Der will zu mir? Mich besuchen. In meinem Haus.
Wann hat es das das letzte Mal gegeben? Dass jemand zu mir will? Vor Jahren gab es mal ein Essen mit Kollegen, als die neue Verwaltungsreform griff. Dann nicht mehr.
Die Geschichte erzählt nicht, was Zachäus tatsächlich dachte und fühlte. Darüber können wir nur spekulieren. Aber sie erzählt davon, wie sich etwas in ihm bewegte und ihn in Gang setzte.
Und er stieg eilend herunter und nahm ihn auf mit Freuden.
Eilend. Zachäus lässt sich den Moment nicht entgehen. Schnell die Äste gepackt und nach unten geglitten. So, nun diese Gasse entlang und jene, Jesus mit seiner Schar dabei im Schlepptau. Da ist es, das feine Haus des Zachäus, etwas verborgen hinter Pinien. Im Schrank sucht er Gläser und Teller zusammen, Wein, Brot und Käse. Da sitzen sie und tafeln und singen und lachen – er weiß selbst nicht, was plötzlich geschieht.
Aber es fühlt sich gut an. Ein fast fremd gewordenes Gefühl steigt in ihm auf: er freut sich.

Hier könnte die Geschichte zu Ende sein… Aber nein:
Da sie das sahen, murrten sie alle und sprachen:
bei einem Sünder ist er eingekehrt.
Da stehen sie, die braven Leute von Jericho: fleißige Handwerker und Bäuerinnen, Schriftgelehrte und Marktfrauen, der Hirte und die Hebamme, der Lehrer und die Waschfrau – alle, die sonst redlich ihrer Arbeit nachgehen und Gottes Gebote einhalten. Sie murren.
Was ist das jetzt?! Ausgerechnet zu dem mit den krummen Geschäften geht er.
Und im Nebenton schwingt mit: ‚Der hat es nicht verdient – im Vergleich mit mir…’

Zachäus aber trat herzu und sprach zu dem Herrn: Siehe, die Hälfte von meinem Besitz gebe ich den Armen, und wenn ich jemanden betrogen habe, so gebe ich es vierfach zurück. Jesus aber sprach zu ihm: Heute ist diesem Hause Heil widerfahren…
Die innere Dynamik spitzt sich zu: Während die Leute murren und knurren, entfaltet Zachäus völlig neue Seiten. Vor Jesus entwirft er seine Ideen: Bedürftige will er in den Blick nehmen, Vermögen teilen, Unrecht wieder gut machen, über das nötige Maß hinaus.
Jesu Antwort darauf ist deutlich:
Das, Leute ist ein Stück vom Himmel. „Schalom“ auf hebräisch, „Heil“ auf Deutsch.

Liebe Gemeinde,

wir hören die Zachäus-Geschichte im Herbst 2020.
Eine Geschichte, in der ein Mensch aus der Schublade geholt wird.
Momentan erlebt das Schubladendenken einen großen Aufschwung. Fronten verhärten. Viele Menschen bleiben zwischen Ost und West, links und rechts inmitten der Corona-Lager in der eigenen Blase hängen, in den eigenen Fangruppen und medialen Freundeskreisen. Wir erleben schon seit längerem, dass Gespräche oft nur noch im eigenen kleinen Rahmen, seltener gruppenübergreifend geführt werden,
Leute in Schubladen zu stecken, macht das Leben vordergründig leichter. „Der mit seinem großen Schlitten. Bestimmt neureich. Die mit ihrem ewigen Gejammer. Der Besser-Wessi. Der Jammer-Ossi. Kennst du einen, kennst du alle… Die Sorben. Die Polen. Die Flüchtlinge, die Knastis…“ Schublade zu.
Hinter das Äußere von Statussymbolen, Trachten und Tätowierungen zu blicken, macht Arbeit. Wie geht es dem Menschen dahinter wirklich? Welche Geschichte liegt hinter ihm?

Jesus zieht Schubladen auf und sieht hinter Fassaden. Auf die konkrete Geschichte und vielleicht alte Verletzungen. Aber auch auf ungeahnte Möglichkeiten.
Genau dieser Blick machte Zachäus frei.
Genau dieser Blick leitete damals die Veränderung ein.
Jeder Mensch ist viel mehr, als die anderen momentan von ihm sehen. Ob nun reich oder arm, FDP-Mitglied oder bei den Linken, aus dem Elbtal stammend oder vom Rhein.
Welche grandiose Anregung für ein anderes Sehen:
Hinter der Fassade steckt mehr!

Und welche grandiose Anregung für das Verlassen der eigenen Komfortzone.
Gerade ihn besuchte Jesus, bei dem eine moralische Schwelle zu überwinden war.
Welche Schwellen fallen uns besonders schwer zu überschreiten? Bei einem, der ganz anders wählt als ich? Bei einem ehemaligen Stasi-Mitarbeiter? Bei einem Großunternehmer? Bei einer Corona-Leugnerin? Oder einer Befürworterin strenger Regeln? Die Schwelle zu einem Asylbewerberheim oder zu einer psychiatrischen Klinik? …
Leicht ist es, jeweils unter sich und seinesgleichen zu bleiben.
Viel größer die Herausforderung, mich auf eine fremde Perspektive einzulassen.
Sie auszuhalten, auch wenn meine eigene Haltung berechtigt eine andere ist.
Wir brauchen dringend die Zwischentöne. Und viele Farben zwischen Schwarz und Weiß. Unsere bunten Geschichten zwischen Herkunft und Hoffnung.
30 Jahre nach der Wiedervereinigung wissen wir oft immer noch zu wenig von den unterschiedlichen Prägungen in Ost und West. Es bleibt spannend, nachzufragen:
‚Wie war das eigentlich bei Euch: was kanntet Ihr vom Osten, als ihr damals hierher gekommen seid? Was wusstet Ihr vom Westen, die ihr damals gegangen seid?’
Bunte Geschichten zwischen Herkunft und Hoffnung.

Und aktuell sind wir an allen Ecken zwischen verschiedenen Corona- Überzeugungen herausgefordert. Menschen sind viel mehr als ihre Haltung zu den Corona-Regeln.
Jana Simon, die Enkelin von Christa Wolf, ermutigte am Mittwoch in der 7. Kamenzer Rede: „Lasst möglichst viele Stimmen zu und haltet sie aus, nicht nur die, die die eigene Haltung decken. Gerade strittige Fragen dürfen und sollen aus allen möglichen Blickwinkeln betrachtet werden.“
Ich möchte anfügen: Kein Mensch verfügt allein über die ganze Wahrheit. Erst die vielen Puzzleteilchen unserer Zugänge ergeben das Ganze. Schaut darauf, was euch verbindet. Welche Hoffnungen und Sehnsüchte. Und was eure Gemeinschaft stärkt.
Das Leben ist zu kostbar, um es von Groll und Spaltung ersticken zu lassen. Dann kann sogar das Lachen wieder kommen, was wir so nötig haben. Ein Stück vom Himmel.
Amen.