Predigt für den 20. Sonntag nach Trinitatis

Der Predigttext steht in Kohelet 12, 1-7

1 Denk an deinen Schöpfer in deiner Jugend, ehe die bösen Tage kommen und die Jahre nahen, da du wirst sagen: »Sie gefallen mir nicht«; 2 ehe die Sonne und das Licht, der Mond und die Sterne finster werden und die Wolken wiederkommen nach dem Regen, – 3 zur Zeit, wenn die Hüter des Hauses zittern und die Starken sich krümmen und müßig stehen die Müllerinnen, weil es so wenige geworden sind, wenn finster werden, die durch die Fenster sehen, 4 wenn die Türen an der Gasse sich schließen, dass die Stimme der Mühle leise wird und sie sich hebt, wie wenn ein Vogel singt, und alle Töchter des Gesanges sich neigen; 5 wenn man vor Höhen sich fürchtet und sich ängstigt auf dem Wege, wenn der Mandelbaum blüht und die Heuschrecke sich belädt und die Kaper aufbricht; denn der Mensch fährt dahin, wo er ewig bleibt, und die Klageleute gehen umher auf der Gasse; – 6 ehe der silberne Strick zerreißt und die goldene Schale zerbricht und der Eimer zerschellt an der Quelle und das Rad zerbrochen in den Brunnen fällt. 7 Denn der Staub muss wieder zur Erde kommen, wie er gewesen ist, und der Geist wieder zu Gott, der ihn gegeben hat.

Liebe Gemeinde am Radio und hier in der Kirche Maria am Wasser,

es geschah bei einer Geburtstagsfeier im Familienkreis, noch vor Corona war es…
Beim zweiten Stück Kuchen, der Kaffe war nachgeschenkt, erhob sich bedächtig ein alter Herr. Er ließ seinen Blick über die Häupter seiner Lieben gleiten und bekannte, wie er sich an ihnen freut. Zugleich schien er vor allem der jungen Generation noch etwas mitgeben zu wollen: „In meinen frühen Jahren wütete der Krieg und hat so viel Leid gebracht. Möge sich das nie wieder­holen. Ich wünsche es euch.“
So ähnlich habe ich seine Worte in Erinnerung. An ihn musste ich denken, als ich über unseren heutigen Predigttext nachdachte.
Kohelet heißt der Verfasser. Vermutlich wirkte er als Leiter einer Philosophenschule im 4. Jahrhundert vor Christus. Junge Menschen schauten zu ihm auf. Von ihm erhofften sie sich Weisheit.
Geballte Lebenserfahrung steht im Hintergrund seiner Gedanken. Auch bei unserem Predigt­text, der so eindrücklich beginnt. „Gedenke an deinen Schöpfer in deiner Jugend, ehe die bösen Tage kommen und die Jahre nahen, da du sagen wirst: ‚Sie gefallen mir nicht’.“ Was da kommen kann, führt er bildhaft aus.
Dabei fängt Kohelet Vorgänge aus der Natur und dem häuslichen Erleben ein. Mit Bildern, die sich auf Alterungsprozesse ebenso beziehen lassen wie auf neue Lebensabschnitte allgemein. Wir können seine Gedanken auf unterschiedlichen Ebenen hören können.
Und so möchte ich mit Ihnen gemeinsam in 3 Richtungen blicken:

1) Die erste: Ein Mensch im hohen Lebensalter

„Wenn finster werden, die durch die Fenster sehen“
schon damals ist dieses Bildwort auf das Nachlassen des Augenlichts gedeutet worden…
„wenn müßig stehen die Müllerinnen, weil es so wenige geworden sind“
und dieser Vers auf die ausfallenden Zähne;
„wenn man vor Höhen sich fürchtet und ängstigt auf dem Wege“
hier klingt das allgemeine Nachlassen der Kräfte an und die damit verbundene Angst: werde ich dem gewachsen sein, was auf mich zukommt?
Ein Mensch im hohen Lebensalter hat all dies mehr oder weniger stark zu bewältigen:
dass die Sinne sich zurückziehen und die Kraft schwindet. Dass er zunehmend auf Hilfe angewiesen ist und sich vielleicht überfordert oder einsam fühlt.
Ein Mensch im hohen Lebensalter geht auf den Tod zu. „Ehe der silberne Strick zerreißt und die goldene Schale zerbricht… denn der Staub muss wieder zur Erde kommen, wie er gewesen ist…“ Anschaulich, zugleich aber nüchtern beschreibt Kohelet das Altwerden.
Unsere Lebenskraft nimmt Stück für Stück ab. Irgendwann werden wir wieder zu Erde.

Nicht alle erleben das hohe Alter als „böse Tage“. Wie gut. Unsere moderne Medizin und die in 2000 Jahren enorm gestiegene Lebenserwartung verweisen auf eine andere Wirklichkeit als damals im Alten Orient. Doch auch wir altern. Und werden sterben.
„Denk an deinen Schöpfer in deiner Jugend, ehe all diese Tage kommen“
Kohelet scheint ein Mittel zu kennen, sich selbst inmitte gut zu verankern: Verwurzle dich in göttlicher Kraft! Möglichst früh in deinem Leben. Lerne dich selbst als Geschöpf zu begreifen. Jemand hat dich in die Welt geworfen; jemand wird dich wieder rufen. Wenn Du Gott dazu sagen kannst, wird dich dieses Vertrauen tragen. Auch in weniger leichten Zeiten.
Wenn du früh einübst, dich tragen zu lassen, wird es dir später weniger schwer fallen.
Wenn du früh einübst, dich an der Schöpfung zu freuen, wirst du es auch später können.
Wenn du schon früh zu danken lernst, bleibst du auch später ein dankbarer Mensch.
Vor kurzem besuchten mein Mann und ich einen hoch betagten Handwerksmeister in seinem Stübchen. Laufen kann er kaum mehr, sehen schlecht; die Hände zittern.
Er liegt auf einer hölzernen Bank. „So verbringe ich nun meine Tage“, sagt er.
Wir denken, jetzt folgt vielleicht eine Klage über das, was er nicht mehr kann:
Dass sein Wirkungskreis so klein geworden ist. Dass er nicht mehr mit in die Werkstatt gehen kann, die sein Ein und Alles war. Irgendetwas in der Art.
Doch da schaut er hinauf an die Zimmerdecke und nimmt unsere Blicke mit.
„Ist das nicht eine Gnade?“ fragt er. „Den ganzen Tag über kann ich dieses Lärchenholz bewundern und diese feine Struktur!“ – Wir staunen. Wie gut ist es, zu solch einer Haltung zu finden! Und sich früh schon bei jener Quelle zu verwurzeln, aus der wir leben.

2) Die zweite Blickrichtung: Lebenslang Altern

Auch wenn es auf den ersten Blick nicht so scheinen mag: das Thema betrifft uns alle.
Jetzt schon. Denn wir altern lebenslang. Immer wieder durchleben wir Phasen, bei denen etwas zu Ende geht und etwas Neues beginnt. Jede Phase kennt dieses gleichzeitige Loslassen und Aufbrechen, diese Mischung aus Schmerz und Vorfreude.
Wenn die Milchzähne ausfallen, um den neuen Platz zu machen,
wenn der kindliche Körper sich in einen jugendlichen wandelt,
wenn Eltern gleichzeitig froh und wehmütig ihre Kinder in die Welt ziehen lassen,
wenn die braunen Haare grauen weichen,
wenn das Gelernte aus der Schulzeit verblasst, aber Erfahrungswissen wächst.
Wir altern lebenslang. Wir lassen etwas los, damit anderes reifen kann.
„Alles hat seine Zeit“ – lautet ein ebenfalls berühmt gewordener Vers des klugen Predigers. Alles beginnt und endet. Und wir sind mit den damit verbundenen Unsicherheiten fortwährend konfrontiert.

Der Rat des Predigers passt also durchaus vor dem hohen Alter. Auch für mich:
Verbinde dich gut mit dem Göttlichen, nimm die eigene Geschöpflichkeit an.
Wenn ich weiß (oder ahne), wem ich mich verdanke, weiß ich auch, auf wen ich in harten Zeiten hoffen kann. Und ich weiß, zu wem ich letztlich gehe.
Zum Leben gehören ja helle und dunkle Wegstrecken. Wir kennen Tage, in denen wir uns im Einklang und beschenkt fühlen. Wenn wir dann die Verbindung zu Gott stärken, hilft uns das für die bitteren Tage. Dann vermag uns das zu Gott hin geknüpfte Beziehungsnetz zu tragen. „Zu Gott hin“, formuliert Kohelet – und damit die Hoffnung, dass wir bei all diesen Übergängen nicht allein sind. Gott setzt uns das Ziel.

3) Die dritte Blickrichtung: Unsere Erde

Zur Zeit des Kohelet lebten etwa 200 Millionen Menschen auf der Erde. Und nur wenige Landstriche waren besiedelt.
Unsere heutige Welt unterscheidet sich von jener enorm: Reichlich 7 Milliarden Menschen bewohnen eine Erde, die ihre Gefährdung aktuell mit Dürren und Fluten drastisch zeigt.
So deutlich wie wohl keiner Generation vor uns steht die Verletzlichkeit des Lebens vor Augen. Angesichts sterbender Pflanzen- und Tierarten fragen sich viele: freuen wir uns an manchem ein letztes Mal?
„Ehe die Sonne und das Licht, der Mond und die Sterne finster werden und die Wolken wiederkommen nach dem Regen… denn der Staub muss wieder zur Erde kommen, wie er gewesen ist…“ formuliert Kohelet. Müssen wir dies in unseren Tagen auch global verstehen, auf die Endlichkeit unseres Planeten bezogen? Neigt sich die „goldene Schale auch für die Erde“?
„Denke an deinen Schöpfer – Was heißt es, uns auch mit Blick auf unsere Erde in Gott zu gründen?
Wo es einen Schöpfer gibt, gibt es Geschöpfe.
Auch die Erde und alles Leben darauf verdanken wir nicht uns selbst.
So sehr sich die Menschen spätestens seit der Neuzeit gern Herrschafts- und Machtphantasien hingaben, durchleben wir doch seit längerem einen wichtigen Prozess. Die Einsicht reift: Wir besitzen die Erde nicht, nicht die Pflanzen, nicht die Tiere – auch wenn viele von uns noch gelernt haben, von Tier- und Pflanzenproduktion zu sprechen, als wären es Dinge, Objekte, die wir herstellen und über die wir nach Belieben verfügen können… Wir sind Geschöpfe unter anderen Geschöpfen. Und doch versehen mit dem göttlichen Auftrag, sie zu bewahren.

Vor drei Wochen, am 24. September gab die Sächsische Zeitung ein Gespräch mit dem Organisator der Dresdner Nacht der Künste, Holk Freytag, wieder.
Er plante diesen Tag unter dem Titel „Auftrag Natur“. Seine Analyse zum Verhältnis Mensch und Natur klingt in diesem Interview hart, wenn er sagt: „Wir treten drauf, wir zünden an, wir machen kaputt…“
Wie können wir denn auf neue Weise Partnerschaft lernen? Vom Glauben her gefragt:
Wie können wir so als Geschöpfe unter anderen leben, dass wir dabei erhalten statt kaputt zu machen. Das Trinkwasser und die Luft zum Atmen, die natürlichen Ressourcen als Lebensgrundlagen auch für nachfolgende Generationen.

Liebe Gemeinde,

interessanterweise stecken im Predigttext nicht nur Bilder des Vergehens.
Dieses „zu Gott hin“, das Kohelet formuliert, – lässt sich auch auf unsere Erde beziehen. Nach biblischer Verheißung wird Gott einst alles neu schaffen, Himmel und Erde.
„Zu Gott hin“ – darin höre ich Hoffnung auf neues Leben bei Gott. Wenn ich den Schöpfungsglauben ernst nehme, beziehe ich unseren Lebensraum dabei mit ein.
Und erbitte zugleich die Kraft, heute das Nötige zu tun. So wie wir es im nächsten Lied singen werden: „Herr über Wasser, Feuer, Wind, hilf, dass wir Wege finden, die für uns heute gangbar sind und in das Leben münden. Und lehre uns auf Christi Spur, dem Wahn zu widerstehen und mit den Kräften der Natur behutsam umzugehen.“

Amen.