Liebe Gemeinde,

Was für ein Jahr geht zu Ende: Furcht geht um in Europa. Furcht vor dem Krieg in der Ukraine, Furcht vor der Energieknappheit, Furcht vor der Inflation. Furcht lähmt. Man kommt in eine passive Haltung und wartet nur noch ab, was andere entscheiden.

„Fürchtet euch nicht!“ – das ist die Botschaft an die Hirten, die damals nicht über eine Bürotemperatur von 19 Grad geklagt, sondern wirklich gefroren haben. Die Hirten, deren Dach über dem Kopf der Himmel war und die an jedem Tag hofften, genug zu essen zu bekommen. Sie blieben nicht lahm, sondern ließen sich auf die Botschaft der Engel ein und machten sich auf den Weg: „Fürchtet euch nicht!“

Diese Botschaft gilt uns. Uns Hirten der Familien, uns Hirten der Kindergarten- und Schulkinder, uns Hirten der Sportvereine, uns Hirten der Pflegeheime, uns Hirten in den Kreistagen, Landtagen und im Bundestag, uns Hirten in den Kirchgemeinden. Jeder und jede hat Verantwortung für andere Menschen, die er oder sie zu hüten und zu behüten hat. Fürchtet euch nicht vor dieser Aufgabe, sondern nehmt die Engelsbotschaft ernst, die zu diesem Weihnachtsfest besonders aktuell ist.

Macht euch zum Kind auf – lasst euch nicht aufhalten. Ihr findet es in den Kindern eurer Familien, in den Kindern eurer Nachbarschaften, dort, wo Ihr wohnt. Ich konnte gestern meinen Enkel abholen, und wenn ich in seine Augen sehe, da lacht mir das Kind aus der Krippe und eine helle Zukunft der Welt entgegen.

Macht euch zum Kind auf und findet dabei auch das Kind, das ihr selbst einmal wart. Das Kind, das staunend in die Welt geblickt hat und für das die Welt voller Wunder war. Das Kind, dass sich nicht gefürchtet hat, weil es sich behütet wusste – von den Eltern und dem Schöpfer der Welt. Das Kind, für das Weihnachten einen einzigartigen Zauber hatte. Macht euch auf den Weg zum Kind in euch. Und fürchtet euch nicht! Fürchtet euch nicht vor dieser Begegnung. Sie wird euch verändern. Gebt der Sehnsucht wieder Raum. Der Sehnsucht nach Frieden in einer unfriedlichen Welt. Der Sehnsucht nach Heil in einer unheilen Welt. Denn der Heiland ist geboren, und er will wieder und wieder geboren werden in uns.

„Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, werdet ihr Gottes Reich nicht erlangen.“ – sagt Jesus. Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, werdet ihr das Wunder der Weihnacht nicht erkennen.

Kinder bringen Menschen zusammen. Manche getrennten Familien würden sich nie mehr sehen, wenn nicht die Kinder da wären. Kinder vermögen, was wir Erwachsene oft nicht mehr können. Kinder können zusammenbringen, was zusammen gehört. Das Kind in uns kann mehr als wir uns inzwischen zutrauen.

Kinder können dafür sorgen, dass wir einander näherkommen. Und wenn es nur ein Schritt ist. Der deutsch-iranische Schriftsteller Navid Kermani beschreibt die Situation an einem Pilgerort. Es sind so viele Menschen da, dass es einen Stau gibt und die Menschen nicht mehr weiterkommen. Sie wollen aus allen Richtungen zum Zentrum und stehen ringsherum in großem Abstand, aber können sich nicht mehr bewegen. Da ruft der Ordnungsdiener laut: „Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen.“ Es tut sich nichts. Dann ist die Stimme eines Kindes zu hören: „Los!” Alle versuchen, zaghaft einen Fuß zu bewegen. Es gelingt, der Stau löst sich, und alle sind ihrem Ziel einen Schritt näher gekommen. Der Priester, der eine Predigt halten wollte, sagt: „Ich habe nichts mehr hinzuzufügen. Der Ordnungsdiener und das Kind haben alles gesagt.“

Wenn wir uns trauen, von unserem Standpunkt einen Schritt nach vorn zu gehen – dann kommen wir dem Licht des Lebens näher und wir kommen einander näher. Dann wird es Weihnachten.

„Selig sind, die Frieden stiften, denn sie werden Gottes Kinder heißen.“

Geht einen Schritt aufeinander zu in den Familien, die sich seit zwei Jahren wegen Corona zerstritten haben. Geht aufeinander zu, die ihr eine unterschiedliche Meinung zur Klimakrise und zu anderen Krisen in unserer Zeit habt. Geht diesen einen Schritt in Russland und der Ukraine. Geht diesen einen Schritt, ihr Präsidenten, ihr Hirten eurer Völker! Und ihr Bischöfe und ihr Verantwortlichen in der Kirche, ermutigt alle zum Frieden. Bringt Phantasie auf und fürchtet euch nicht, als Phantasten belächelt zu werden.

Und was können wir „kleinen Leute“ bewirken in dieser Welt? Sehr viel. Eine Geschichte hat mich zum Nachdenken gebracht: Ein Schüler fragt seinen Lehrer: Alle wollen Frieden, aber er kommt nicht. Wann wird es endlich Frieden? Der Lehrer antwortet: Die Leute im Mittelalter, welche die Kathedralen gebaut haben, haben sie nie fertig gesehen. Zweihundert oder mehr Jahre wurde daran gebaut. Da hat ein Architekt den Grundriss entworfen, ein Steinmetz eine wunderschöne Rose gemacht, ein Zimmermann hat haltbare Dachbalken gebaut. Das war ihr Lebenswerk. In die fertige Kathedrale konnten sie nie hineingehen. Doch eines Tages gab es sie tatsächlich. So ähnlich musst du dir das mit dem Frieden vorstellen.

Und es begab sich in dem Jahr der vielen Krisen, dass sich die Menschen auf den Weg machten. In Deutschland, in Europa, in der ganzen Welt – ein jeder in seiner Stadt. Und sie waren nicht mehr gelähmt, sondern begannen, das Kind zu suchen – in sich selbst. Und das ermutigte sie, einen Schritt näher zu kommen. Näher aufeinander zu und näher zum Geheimnis des Lebens. Und sie bauten am gemeinsamen Haus des Friedens – ein jeder mit seiner Begabung. Und so wurde es hell an jedem Ort und der Chor der Engel klang so kräftig wie nie:

Fürchtet euch nicht! Denn euch ist heute der Heiland geboren. Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen!

Frohe, gesegnete Weihnacht! Amen.