Kurzpredigt
von Pfarrerin Maria Heinke-Probst
für den Ewigkeitssonntag 2024
nach der Kantate „Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit“
24. November, 10 Uhr
vom Leben und vom Sterben singt und klingt jene eindrückliche Kantate von Johann S. Bach. Sein berührendes Werk bedenkt beides: das Sterben-Müssen und das Leben,
Zeit und Ewigkeit. Die Kantate greift auf verschiedene Bibelstellen zurück, u.a. auf Psalm 90, aus dem wir einige Verse am Anfang des Gottesdienstes hörten. Daraus lese ich noch einmal 4 Verse: Herr, du bist unsre Zuflucht für und für. – Der du die Menschen lässest sterben und sprichst: Kommt wieder, Menschenkinder! – Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden – Fülle uns frühe mit deiner Gnade, so wollen wir … fröhlich sein unser Leben lang. Amen
Liebe Gemeinde,
wir hören diese Worte heute nicht im luftleeren Raum. Viele von uns haben im vergangenen Jahr einen geliebten Menschen verloren. Oder auch mehrere. Blieben zurück an Sterbebetten und an Gräbern. Mit zerbrochenen Hoffnungen und geweinten Tränen.
Mit einem Alltag, der oft mühsam erst wieder zu lernen ist.
Ja, manches Sterben war durchaus auch ein Segen am Ende eines reich gefüllten Lebens. Doch für andere brach es jäh und plötzlich herein oder zog sich hin und wurde zur Qual.
Gott, du bist unsere Zuflucht für und für – übersetzte Martin Luther aus dem Hebräischen.
Ist das so? Ist Gott für uns eine Zuflucht, ein guter, sicherer Ort, an dem wir uns bergen können, an dem wir auch unsere Toten bergen können? Ein Ort auch für unsere Liebe?
Der biblische Psalm bekennt es so. Er geht von der unendlich größeren Zeit aus, die Gott überblickt. Und von Gottes Zeit, viel gewaltiger als unsere kleine begrenzte Lebenszeit.
In ihr darf unsere Zeit aufgehen.
Psalm 90 lässt sich grob in 2 Teile gliedern: Im ersten Teil überwiegt die Klage über die Kürze des menschlichen Lebens: von 70 Jahren ist die Rede, wenn‘s hoch kommt, 80 – den meisten Ihrer verstorbenen Angehörigen wurden mehr Jahre geschenkt, aber es gab auch das Loslassen-Müssen vor der Zeit. „Wie ein Gras, das am Morgen blüht und sprosst und des Abends welkt und verdorrt…“, formuliert der Psalm. Melancholie klingt aus diesen Worten, auch Bitterkeit, die wir vielleicht auch kennen: „Das ging zu schnell. Das ist nicht gerecht!
Wir hatten noch so viel vor! Und manches war noch auszusprechen!“
Nun ist es zu spät für die ungesagten Worte, für Klärungen oder auch Zärtlichkeiten.
Vielleicht stecken manche von uns genau da – in der Traurigkeit, im Hadern über das, was nicht mehr möglich ist, im Blick auf zerplatzte Hoffnungen.
Andere konnten schon ein Stück loslassen und sagen: „Ich weiß ihn bzw. sie bei Gott gut aufgehoben. Seine Zeit in Gottes Ewigkeit. Das lässt mich trotz allem fröhlich an mein Tagwerk gehen.“ So ähnlich klingen die Verse im zweiten Psalmteil.
Dazwischen aber steckt – wie ein Scharnier – eine innige Bitte. Im Vers 12, den uns der Tenor zusang: „Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“
Offensichtlich liegt hier eine Schaltstelle zwischen tiefer Trauer und neuer Hoffnung. Vermutlich ist das eine unserer schwierigsten Lebensaufgaben: mit Tod und Sterben leben zu lernen. Mit dem eigenen Tod. Und mit dem Sterben geliebter Menschen. Mit den Lücken, die der Tod reißt. Mit den halb vernarbten Wunden.
Begreifen müssen, dass der Tod dazugehört. Nicht nur nach durchschnittlich 83 Jahren bei Frauen und 78 Jahren bei Männern in Deutschland. Sondern oft so viel eher: nach dem Unfall, nach dem schweren Krebs, nach dem Sprung von der Brücke…
„– auf dass wir klug werden“ – klug werden angesichts des Todes?! Wie kann das gehen?
Was kann das mehr sein als nüchtern zu akzeptieren, dass der Tod alles Leben begrenzt?
Drei Impulse möchte ich dazu geben:
Klug werden heißt: loslassen lernen. Immer wieder neu im Laufe eines Lebens: schon, wenn wir unser Kind an der Kindergarten- und Schultür abgeben. Wenn eine Beziehung zerbricht. Loslassen: Die Tochter durch die Krankheit. Die Heimat nach dem Wegzug. Die geistige Klarheit der Eltern im hohen Alter. Die eigene Kindheit, die Jugend und Träume, die Kraft der mittleren Jahre, das Leben an sich. Immer wieder heißt es: loslassen und Abschied nehmen bis zum großen Abschiednehmen am Ende.
Wir können lernen, diese Abschiede zu gestalten. „Lebewohl“ zu sagen. Zu einem Menschen und zu einem Lebensabschnitt. Du da, den ich jetzt verabschiede, lebe wohl! Mein Bruder, meine Schwägerin – lebe wohl! Möge es dir gut gehen in Gottes Ewigkeit! Mögest Du Frieden finden. Loslassen, die Trauer zulassen, sich hindurcharbeiten wie durch einen Nebel. Irgendwann das Gesicht wieder in die Sonne halten. Am Grab stehen und sagen: „Lebe wohl!“
Manche von Ihren verstorbenen Angehörigen haben sich zu Lebzeiten selbst auf ihren Tod vorbereitet: wichtige Entscheidungen getroffen, z.B. betreffs lebenserhaltender Maßnahmen. Oder auch für die Beerdigung Lieder und Texte mit ausgewählt. Vielleicht den eigenen Sarg… Wie gut, wer bewusst die Schritte geht, die zu gehen sind. Und damit auch den Angehörigen Orientierung gibt.
Der heutige Sonntag regt auch dazu an: sich selbst vorzubereiten. Denn wir wissen nicht, welche Lebensspanne uns geschenkt wird.
„Bestelle dein Haus!“, sang der Bassist. So wie wir im Spätherbst den Garten winterfest machen, die Dahlienknollen ins Haus holen und anfällige Pflanzen vor dem Frost schützen oder kaputte Fenster rechtzeitig reparieren – so ist es klug, beizeiten unser Lebenshaus zu bestellen. Was wollen wir einmal weitergeben – an Ideen und Überzeugungen, an erworbenem Geld und Gut? Und an wen? Wie stehe ich zu lebenserhaltenden Maßnahmen?
Welche Lieder wünsche ich mir zu meiner Beerdigung? Oder aber: Möchte ich eigene Lebenserinnerungen aufschreiben? Und für wen? (Vermächtnis meines Großonkels – ein Schatz!)
Wenn wir unser Leben vom eigenen Tod her betrachten, verändern sich die Maßstäbe.
Wir spüren deutlicher, was wirklich zählt.
Noch bist du da, heißt ein Gedicht von Rose Ausländer. Ich zitiere es:
Wirf deine Angst in die Luft. Bald ist deine Zeit um.
Bald wächst der Himmel unter dem Gras, fallen deine Träume ins Nirgends.
Noch duftet die Nelke, singt die Drossel.
Noch darfst du lieben, Worte verschenken.
Noch bist du da. Sei, was du bist, gib, was du hast.
Noch darfst du lieben – das ist wohl das Beste, womit wir unser Leben füllen können.
Jesus hat das gelehrt und gelebt: Zu lieben – mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit aller Kraft… Das sei das Allerwichtigste, sagte Jesus immer wieder.
Noch darfst du lieben. Nehmen wir unsere Liebsten in den Blick und pflegen wir unsere Liebe! Wichtiger noch als die Länge des Lebens ist seine Tiefe.
Liebe Gemeinde, loslassen – sich vorbereiten – Liebe schenken – diese 3 Schritte können uns helfen, in der ars moriendi, der Kunst zu sterben. Soweit das geht.
„Fülle uns frühe mit deiner Gnade, so wollen wir … fröhlich sein unser Leben lang.“
Der Psalm findet schließlich zu einer neuen Grundmelodie, zu tiefer Zuversicht, sogar zu Fröhlichkeit. Dies schlägt eine Brücke zu jener großen Verheißung auf Gottes neue Welt, in der Leid und Tränen nicht mehr sein werden, die im letzten Buch der Bibel aufstrahlt.
Klug werden im christlichen Sinne mündet in diese Hoffnung: Gott wird uns herausholen von den Toten, herausrufen. Und hineinbitten in Gottes Freudensaal. Amen