Liebe Gemeinde!

Woran denkt ein Mensch, wenn ihm klar wird, dass er kurz vor dem Ende seines Lebens steht? – Vorausgesetzt, die Beschaffenheit seines Leibes gestattet es ihm, sich überhaupt Gedanken zu machen.

Ich kann Ihnen keine abgesicherte Statistik vorlegen, ich kann Ihnen lediglich von meinen Erfahrungen erzählen. So oft ich jemanden beim Sterben begleitet habe und es dabei zu einem Gespräch kam, hat niemals jemand gefragt: „Wie wird das sein, wenn ich tot bin? Was wird dann auf mich zukommen?“ Es ging ausnahmslos um dieses Leben auf Erden. Entweder konnte man zufrieden zurückblicken, oder es quälten einen die Defizite. Was ich jemandem schuldig geblieben bin, wenn ich jemanden verletzt habe und es ist zu keiner Aussöhnung gekommen – derlei dominierte dann das Gespräch. Und der Wunsch nach einer Korrektur war mitunter quälend.

Eine alte Frau – sie diente unserer Kirchgemeinde lange Jahre als Küsterin und galt als die Selbstlosigkeit in Person – sie hatte einmal ihrem Sohn in aller Deutlichkeit gesagt, dass ihr seine Art zu leben missfällt. Ob zu Recht oder nicht – wir haben es nicht zu beurteilen. Er jedenfalls verließ daraufhin sein Zuhause und kam nicht mehr zurück. Seine Mutter, die deutlich spürte, wie ihre Lebenskräfte zur Neige gingen, litt darunter, dass das so war. Alle neuerlichen Gesprächsangebote hatte er ausgeschlagen. Doch die Mutter hätte sich so gern mit ihm ausgesöhnt.

Der Mann war nicht aus der Welt, er wohnte in der weiteren Nachbarschaft. Ich fuhr zu ihm, suchte ihn auf, erzählte ihm, wie es um seine Mutter stand, und bat ihn mitzukommen. Und er kam mit! Nun saß er neben seiner Mutter, sah sie an und sagte kein Wort. Sie weinte leise vor sich hin. Dann konnte er sich überwinden und schloss seine kräftigen Hände um die ihren. Sie sagte – kaum hörbar: Danke.

Nun konnte sie in Frieden sterben.

Und der Sohn in Frieden leben.

*

Es kann aber auch ganz anders mit dem Leben zuende gehen. -

Zehn Jahre lang habe ich als Pfarrer in einer österreichischen Diasporagemeinde Dienst getan. Wir hatten gegenüber von uns, auf der anderen Flussseite einen niedlichen alten Schuhmacher wohnen. Er war nicht nur ein guter Handwerksmeister, bescheiden in seinen Preisforderungen, er war auch ein angenehmer Scherzemacher, einer von den leisen sozusagen. Die Leute gingen gern zu ihm. Er war schon recht alt, arbeitete aber noch immer. Ich wusste anfangs gar nicht, dass er zur evangelischen Gemeinde gehörte. Und dass er einmal aus Kroatien gekommen war, wusste wohl auch niemand mehr. Evangelisch geworden war er seiner verstorbenen Frau zuliebe, wie ich später der längst abgelegten Karteikarte entnahm. Dort ist auch sein Geburtsort vermerkt. Eine eigene Karte hatte er nicht. Und das war ihm wohl recht. -

Eines Tages hat er dann ins Alters- und Pflegeheim umziehen müssen. Dass er mein Gemeindeglied war, wusste ich damals noch nicht. Doch als die Schwester, die ihn zu pflegen hatte, zu mir kam, um mir seinen Tod zu melden, erfuhr ich es. Viel zu spät, wie ich meine.

Er hatte sich das Leben genommen. Mit allerletzter Körperkraft, die ihm zur Verfügung stand, hatte er sich mit dem Gürtel seines Bademantels an der Griffstange am Fußende seines Pflegebettes erhängt.

„Es war furchtbar in den letzten Wochen seines Lebens“, erzählte mir die Schwester. Nicht nur nachts, sondern auch am helllichten Tag habe er von Erschießungen geträumt, an denen er als ganz junger Mann selbst teilgenommen hatte. Er gehörte in jungen Jahren – wie sich nun herausstellte – zu den Ustaschafaschisten. Und die waren in seiner Heimat für ihre gnadenlose Grausamkeit bekannt.

Schade, dass ich nicht eher davon erfahren habe. Wenn er dazu zu bringen gewesen wäre, mir davon zu erzählen… Niemand hätte es ungeschehen machen können. Aber vielleicht hätte er es zusammen mit mir aushalten können? Und wir hätten davon sprechen können, dass er ja auch noch ein anderes Leben gelebt hat. Und er hätte aussprechen können, dass er es bitter bereut… Nun hat er vor dem Richterstuhl gestanden – und hat verloren. – - -

Ich erzähle Ihnen solche Beispiele, um aufzuzeigen, dass man diesen Gerichtsstunden nicht entkommen kann – auch dann nicht, wenn es einem gelingt, seine Identität zu wechseln und in einer Gegend abzutauchen, wo man sich nicht schuldig gemacht hat.

Wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi – damit ein jeder empfange wie er gehandelt hat bei Leibesleben. Es sei gut oder böse. – So lautet der Satz vollständig im Korintherbrief.

Ich will Ihnen auch das eine, noch folgende Beispiel nicht ersparen.

Ich lernte sie als Patientin im Krankenhaus kennen. Eine zierliche alte Frau, eine Witwe. Der Ehemann war schon vor meiner Zeit verstorben. Unüberhörbar sprach sie den Dialekt der östlichen Vororte von Erfurt, obwohl sie schon ein halbes Jahrhundert in dieser anmutigen steirischen Gegend ansässig war. Sie wusste: Der neue evangelische Pfarrer ist aus Erfurt gekommen. Sie fragte mich aus, wie es dort „nach dem Krieg“ so zugehen würde. Ich gab ihr gern Auskunft. Dann wollte ich von ihr wissen: „Wie sind Sie denn hierher gekommen?“ – Sie gab mir zur Antwort: „Mit meinem Mann. Er hatte beruflich in der Gegend zu tun.“

Nun war mir buchstäblich ein paar Tage zuvor bei einem Besuch im benachbarten Benediktinerkloster berichtet worden, dass man nach der Besetzung Österreichs das Kloster aufgelöst und die Mönche nachhause geschickt hatte. Die Benediktinerabtei wurde von der SS umfunktioniert in ein Zweiglager des Konzentrations-lagers Mauthausen.- Ich überlegte: westliche Vororte von Erfurt, berufliche Veränderung – und ich fragte sie: „War ihr Mann zuvor im Norden von Weimar beschäftigt?“ Sie bestätigte es mir und bat entschieden: „Ich möchte darüber nicht sprechen.“

Ihr Herz war nicht mehr ganz intakt und wurde in Abständen behandelt und gestärkt im Spital. Sie blieb so zirka zwei Wochen, dann konnte man sie wieder nachhause entlassen.

Eines Tages standen ihre erwachsenen Kinder in meiner Tür und baten mich, sie zu bestatten. Sie teilten mir mit: Sie habe sich selbst das Leben genommen. Im Trauergespräch erfuhr ich noch mehr: Auch ihr Ehemann, der Vater der Kinder, hatte sich suizidiert. Nach dessen Tod erfuhren die Kinder etwas von ihrer Mutter, was sie niemals für möglich gehalten hätten: Beide Eltern waren in diesem Konzentrationslager als Aufseher beschäftigt. Die Heranwachsenden hatten sie in ganz anderen Berufen erlebt.

Wieder und wieder hatte der Vater mit seiner Frau besprochen, wozu sie einmal fähig gewesen sind – bis er es nicht mehr ertrug. Und nun die Mutter.

Sie hatte – wie sich herausstellte – sogar den Haken aufbewahrt, den ihr Ehemann in den Holzbalken über der Bodentreppe geschraubt hatte, um seinem Leben dort ein Ende zu setzen. Nun hat sie ihn selbst verwendet.

Die erwachsenen Kinder erzählten mir im Trauergespräch, wie sich ihr eigenes Leben verändert habe, seit sie vom früheren Beruf ihrer Eltern wussten. „Kinder von KZ-Aufsehern zu sein, ist furchtbar“, sagte die Tochter unter Tränen.

Und die Mutter hat es bei allen Erinnerungen, die sich nicht auslöschen ließen, nicht mehr ertragen, dass ihre Kinder von nun an in ihr immerzu die Aufseherin sahen. Auch wenn sie darüber nicht sprachen. -

Die Opfer erfahren von solchen Ereignissen nichts. Aber am ‚Gericht‘, von dem Paulus hier redet, führt eben kein Weg vorbei.

*

Natürlich gibt es auch die Hartgesottenen, die mit ihrer Fähigkeit ein Mitmensch zu sein ihr Gewissen eingebüßt haben. Im Nachbardorf des steirischen Städtchens, in dem ich zehn Jahre lang gelebt und gearbeitet habe, gab es eine angesehene Bauernfamilie. Die hatte einen Opa, der ist unter einem schauerlichen Namen in die Geschichtsbücher eingegangen. Auf seinen persönlichen Befehl hin sind fast 80-000 Menschen umgebracht worden. Oft hat er dabei selbst Hand angelegt.

Nach dem Krieg ist er mit halbwegs heiler Haut davon gekommen. Der hat gar nichts bedauert, geschweige bereut. Für ihn war und blieb das alles rechtens, was er getan hatte. Die menschenfeindliche Ideologie, die auch ihn um seine Menschenwürde gebracht hat, vertrat er nach wie vor – auch öffentlich, wenn es ihm danach war. Die Familie hat ihn bis zu seinem Lebensende in einem hoch und abseits gelegenen Almdorf wegsperren müssen. Vielleicht ist ja auch das eine Strafe. Jedenfalls quälte ihn kein Gewissen. Wie ihm da oben und am Ende seines eigenen Lebens zumute war, ist nicht bekannt. ‚Lustig‘ (wie die Österreicher gerne sagen) war ein solches Leben ganz bestimmt nicht.

Aber, liebe Gemeinde, an solche Leute wendet sich der Apostel Paulus nicht. Er wendet sich an solche wie uns, die Jesus Christus kennengelernt haben und gelten lassen wollen, was er von denen, die an ihn glauben, erwartet.

*

Das Gericht, von dem Paulus hier spricht, ist keine juristische Einrichtung. Es müssen nicht geschickte Ermittler uns mit hieb- und stichfesten ‚Beweisen‘ von einer Schuld überzeugen. Wir, die wir von Christus wissen und dementsprechend ein Gewissen entwickelt haben, – nur solche werden angesprochen in diesem Text! Wir spüren es selbst, wenn wir dem, woran wir glauben wollen, zuwider handeln. Mitunter lässt sich dem Gewissen eine Weile ausweichen, doch am Ende des Lebens gelingt das nicht mehr. Wenn die Bilanz unseres Lebens gezogen werden muss, liegt alles offen vor uns. „Was ihr den Geringsten getan habt, das habt ihr mir getan“, sagt er. „Und was ihr unterlassen habt zu tun oder mutwillig jemandem zugefügt, das trennt euch von mir“, füge ich sinnentsprechend hinzu. Was uns von den Menschen trennt, trennt uns von Christus. Und dieser Verlust ist es, der uns zusetzen kann.

Wer sich nichts vorwerfen muss, ist gut dran. Ob es so sein wird, zeigt sich in solchen Stunden.

So ein Gericht muss nicht erst auf dem Sterbebett beginnen. Das kann auch schon früher sein. Ein polnischer Dichter sagte einmal, er möchte so leben, dass er jeden Morgen beim Rasieren seinen Blick im Spiegel aushalten kann. Wenn ich mich selbst nicht mehr ertrage, dann brauche ich Beistand und Hilfe, zu allererst jemanden, dem ich das mitteilen kann. Vielleicht lässt sich ja noch etwas korrigieren. Und dabei ist Beistand besonders wertvoll.

Christus liegt an keiner Strafe. Ich bestrafe mich mit meinem Unbehagen sozusagen selbst. Christus will uns von allem erlösen, was uns zusetzt und beschwert – von allem, was uns und allen anderen ans Leben will. Auch das Sterben ist ein Stück Leben. Das letzte. Es gibt ein heiles Sterben – auch dann, wenn ich nicht mehr gesund bin. Wenn ich nicht an mir selbst leiden muss.

Man kann dieses Gericht eben auch `bestehen` und dafür muss man nicht einmal Christ sein. Wer handelt wie der Mann aus Samaria, der nicht anders kann, als zu helfen, weil er das fremde Leid als eigenes Leid empfindet, – der handelt so, wie es Christus entspricht. Einer meiner Schriftstellerkollegen, der seine letzten Lebenstage in der Hospizstation des Josephstiftes verbracht hat, sagte kurz vor seinem Tod: „Ich danke allen, die so lieb zu mir sind. Und ich danke, dass ich nicht habe erkennbar schuldig werden müssen an anderen Menschen.“

Nach der letzten Diagnose vermochte er einzuwilligen in die knappe Zeitspanne, die ihm noch gegeben war. Er hat – das Ende vor Augen – sein Leben überdacht und am Abend vor seinem Sterben sagen können: „Ich bin mit mir einverstanden.“ Er starb in Frieden.

*

Paulus mahnt seine Leser und Zuhörer an dieser Stelle seines 2.Korintherbriefs: Ihr sehnt euch ins Jenseits, wo ihr endlich alles Irdische hinter euch lassen könnt. Bedenkt aber: Vorher müsst ihr vor den `Richterstuhl Christi‘ treten! „damit ein jeder empfange, wie er gehandelt hat bei Leibesleben. Es sei gut oder böse.“

Wie mir, dem Leser oder Zuhörer, ein ‚hartes Gericht‘ erspart bleiben kann, davon ist – zumindest an dieser Stelle – nicht die Rede. Eine erlösende Botschaft formuliert er hier nicht.

Aber es gibt sie, liebe Gemeinde! In einem der schönsten Adventslieder von Jochen Klepper begegnen wir ihr. Dort wird sie uns zugesprochen.

Die Nacht ist vorgedrungen,
der Tag ist nicht mehr fern!
So sei nun Lob gesungen
dem hellen Morgenstern!

In diesem Lied singen wir auch:

Wer schuldig ist auf Erden,
verhüll nicht mehr sein Haupt.
Er soll errettet werden,
wenn er dem Kinde glaubt.

In diesem Christus-Kind ist Gott selbst Mensch geworden. Wir Menschen sollen nicht länger darunter leiden, dass wir nur empfinden, wie wir Gottes Ansprüchen nicht genügen, wie wir hinter seinen Geboten zurückbleiben. Dieser Christus hat das Eine im Sinn: Wege aufzuzeigen, wie Gottes Ziel und Absicht erreicht werden kann: Dass einer dem anderen in Würde begegnet. Damit jeder seine Tage in Würde zubringen kann.

- Liebt euren Nächsten wie euch selbst – das ist die wahre Gottesliebe. (Markus 12, 31)

- Einer trage des anderen Last – so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen. (Galater 6)

- Ertragt euch gegenseitig und vergebt einander, wenn einer dem andern etwas vorzuwerfen hat. Wie der Herr euch vergeben hat, so vergebt auch ihr! Vor allem aber liebt einander, denn die Liebe ist das Band, das alles zusammenhält und vollkommen macht. (Kolosser 3.)

Schon als Kind beginnt er, die Menschen zusammenzuführen. Das hilf- und schutzlose Wesen braucht die Liebe und den Beistand der anderen – so wie diese das selber auch brauchen. „Ihr seid imstande, das zu tun“. Das sagt er nicht nur, das lässt er sie erleben.

Ihr könnt vieles im Leben planen und schaffen; vergesst darüber das Allerwichtigste nicht – das einzige, was wirklich erfüllt und befriedigt: Seid füreinander da – wie ich für euch da bin.

Wer das dem Kind glaubt und sein Leben entsprechend einrichtet und notfalls korrigiert, der wird gerettet. Wer zulässt, das die sogenannten ‚Nächsten‘ sein Herz erreichen, der ist mit Christus verbunden. Das trägt.

*

Es wird nicht auf Anhieb und ein für alle Male gelingen.

Noch manche Nacht wird fallen
auf Menschenleid und -schuld.

Es wird immer wieder geschehen, dass wir einander etwas schuldig bleiben, dass wir die Schöpfung nicht ausreichend bewahren -

doch wandert nun mit allen
der Stern der Gotteshuld.

Der Sohn Gottes kennt die Menschen. Er weiß, dass wir nicht vollkommen sind. Und dennoch lässt er nicht ab von uns.

Der sich den Erdkreis baute,
der lässt den Sünder nicht. – heißt das in biblischer Sprache.

Sünder werden in der Bibel diejenigen genannt, die Gott und seine guten Absichten kennengelernt, sich aber – willentlich oder nicht – wieder von ihm entfernt haben. Wie sagte ich eingangs? Wer sich vom Menschen trennt, trennt sich von Christus.

Dann kommen die erschreckenden Augenblicke, wo einem das bewusst wird. Gott aber will, dass wir Menschen von allem, was uns zutiefst erschreckt und das Leben vergällt, erlöst werden. Um unseretwillen – aber auch aus folgendem Grund:

Der sich den Erdkreis baute, der braucht seine Geschöpfe, um die gesamte Schöpfung immer wieder ins Gleichgewicht bringen und im Frieden erhalten zu können. Sein Gericht hat nur diesen einen Zweck: Uns ‚Sünder‘ zur Besinnung zu bringen und immer wieder so herzurichten, dass wir in der Lage sind, unseren Schöpfungsauftrag wahrnehmen zu können. Dann vermögen wir die Verhältnisse, unter denen wir leben, und uns selbst zu ertragen.

Es geht ihm immer darum: Einem jeden seiner Geschöpfe das Leben lebenswert zu gestalten – und somit das Leben im Großen und Ganzen zu erhalten. – Und deshalb gehört beides zusammen: Über die eigene Verirrung erschrecken und zugleich erfahren: Er zeigt mir den Weg zurück in ein Leben, zu dem ich Ja sagen kann.

Wie heißt es im Lied?

Als wollte er belohnen,
so richtet er die Welt.

Wer ihm das glaubt, wer sich von ihm in diese ‚Nachfolge‘ rufen lässt -

Wer hier dem Sohn vertraute,
kommt dort aus dem Gericht.

Und deshalb gilt, wozu unser Lied einen jeden und eine jede von uns einlädt:

Auch wer zur Nacht geweinet,
der stimme froh mit ein.

Amen.