Predigt von Pfarrerin Maria Heinke-Probst
im MDR-Rundfunkgottesdienst
vom 1. Dezember, 10 Uhr
mit der Kantate
„Nun komm, der Heiden Heiland“
von Johann Sebastian Bach (BWV 61)
wir feiern Advent. Ankunft. Nun hat sie begonnen – jene besondere Zeit, in der wir warten und uns darauf vorbereiten, dass göttliche Liebe uns erreicht – in unseren Herzen und hinter unseren Türen. – Dabei besinnen wir uns auf die alten biblischen Texte. Was der Prophet Sacharja verhieß, was der Evangelist Matthäus erzählte.
Völlig anders als gedacht kam Jesus damals, als er in Jerusalem einzog – wir hörten es in der Lesung. Dieser Einzug wurde zu einem Wendepunkt – sowohl für Jesus in seiner Lebensgeschichte als auch für seine Mitmenschen in ihrer Haltung diesem ungewöhnlichen Zeitgenossen gegenüber. Reichlich 2 Jahre lang war Jesus mit Männern und Frauen durch Galiläa gezogen, hatte von Gott erzählt, geheilt, sie zu lieben gelehrt – Gott und ihre Mitmenschen ebenso wie sich selbst.
Von Mund zu Mund war die Kunde durchs Land geeilt. Immer mehr Leute wollten ihm nahe sein und an seiner besonderen Kraft Anteil haben. Doch damit nahmen auch die kritischen Stimmen zu. Vor allem in der Hauptstadt Jerusalem, wo die religiöse und administrative Führung saß. Da war es manchen gar nicht recht, wie sein Einfluss wuchs. –
Jesus ahnte, dass sich etwas in Jerusalem zusammenbraute, als er sich mit den Seinen von Galiläa aus nach Süden aufmachte.
Nun kommt er in eine aufgewühlte Stadt, fast könnte man sagen, in eine gespaltene Gesellschaft. Da trifft volle Zustimmung auf starke Ablehnung.
Ich stelle mir vor, wie sie am Straßenrand stehen, Zweige und Blumen vor ihm ausstreuen und rufen „Hosianna! Gelobt sei der da kommt im Namen des Herrn!“ – Miriam zum Beispiel, deren Kind er neulich auf den Schoß nahm und segnete. Das hat sie nicht vergessen.
Oder Zachäus, der nach der Begegnung mit Jesus ein anderer wurde und gelernt hatte, Besitz nicht zu raffen, sondern zu teilen. Auch er ist von Jericho heraufgekommen und winkt. – Viele stehen sehnsüchtig an der Straße:
„Wenn er es doch richten würde!“ Sie jubeln ihm zu: „Hosianna, sei unser König!“
Doch drinnen in der Stadt gärt es. Die Gruppe aus dem Norden mit ihren jubelnden Fans an den Straßenrändern trifft auf eine Stadt im Aufruhr. Voller verunsicherter Leute. –
„Wer ist der?“ überliefert uns Matthäus als Frage, die in der Luft liegt und durch die Gassen der mit Festgästen gefüllten Stadt wabert. Wer ist der? Was will er? Wird er uns von der Fremdherrschaft der Römer befreien, hoffen manche. Es denen endlich zeigen, eine schlagkräftige Truppe zusammenstellen? Sie vielleicht sogar aus dem Land treiben?
Doch dann das! Auf einem Esel! Was soll das denn?
Weder im Staatswagen noch auf dem Streitross! Irgendwie irritierend. Sicher, ein Esel ist gerade im Gebirge, für Lasten und lange Strecken ein besonders gut geeignetes Tier.
Aber mit dem würde man keinen Eindruck schinden, keine Schlacht gewinnen.
Manchen klingen nun die Verse des Propheten Sacharja in den Ohren: Siehe, dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer, arm und reitet auf einem Esel.
Sanftmütig und auf einem Esel – so sehen sie Jesus gerade in die Stadt einziehen.
Manchen Angehörigen der religiösen Elite reicht es nun: „Wie die Leute ihm zuströmen! Diese Massen! Was maßt er sich an?! Prophetische Worte auf sich selbst umzumünzen! Wie provokativ. Wohin soll das führen?!…“ So wogt es hin und her; der Mann auf dem Esel erfüllt die Sehnsüchte der Einen, verunsichert oder verschreckt die anderen.
Sanftmütig, darin steckt Sanftheit und Mut – eine selten gewordene Mischung. Der Prophet beschrieb dies als göttliche Merkmale des Messias, des erwarteten Retters. Und viele fanden dies bei Jesus. Sie erlebten ihn als einen, der heilte, was verletzt, beschwert, zerbrochen war,
nicht nur für Besserverdienende gut, wie sonst oft, oder für religiös Geübte… nicht nur für die Eliten oder die Mitte der Gesellschaft, vor allem für die unter die Räder Gekommenen, die Kranken, die Armen. Und: nicht nur für ein Volk, eine Ethnie, sondern als Heiland für die Völker. Auch dies ist dem Evangelisten Matthäus wichtig. „Geht hin in alle Welt“, zitiert er Jesus am Ende seines Evangeliums. Jesu Botschaft gilt allen.
„Nun komm der Heiden Heiland“ – unter diesem Titel hörten wir soeben die Kantate von Johann Sebastian Bach – eine wunderbare Mischung aus Worten und Melodien verschiedener Jahrhunderte. Bach griff für die Komposition auf den gleichnamigen Choral Martin Luthers zurück, der wiederum als Hymnus bis ins 4. Jh. zurückreicht.
Komm, Heiland – mit Heil für die Völker und ihren Umgang miteinander – mit Frieden, der groß gedacht wird, so sehnlich gewünscht an vielen Stellen der Erde. Als die vier Stimmlagen im Eingangschor nacheinander sangen „Nun komm, der Heiden Heiland“, war mir, als würde es aus Ost und West, aus Nord und Süd flehen – der Wunsch nach Frieden für die Völker.
Komm bitte aber auch zu uns persönlich.
„Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an.“ Wie eindringlich die Streichinstrumente dies gestalteten – haben Sie es noch im Ohr? Klopf, klopf, klopf … Das gilt tatsächlich dir und mir. Gott klopft an unsere Seelen, an unsere tiefsten Sehnsüchte. Und sagt: „Hier bin ich. Öffne mir!“ – In dieser Kirche »Maria am Wasser« wird jener Vers aus dem letzten Buch der Bibel im rechten Altarfenster bildlich dargestellt: Jesus, wie er von außen an die Tür klopft … Da steht er mit seinem sanften Mut. Mit seiner Liebe. Mit seinem Gottvertrauen selbst in tiefster Not, sogar im Tod. Vielleicht auch für uns provozierend.
Können wir so jubeln wie Miriam und Zachäus? Oder bricht sich eher Enttäuschung die Bahn. Und der Wunsch nach einem starken Mann, der draufhaut und zurückschlägt?
Gerhard Schöne dichtete vor Jahren: Jesu, meine Freude, meines Herzens Weide, Jesu, wahrer Gott. Wer will dich schon hören? Deine Worte stören den gewohnten Trott. Du gefährdest Sicherheit! Du bist Sand im Weltgetriebe. Du mit deiner Liebe.
Jesus kommt mit sanftem Mut dorthin, wo es nötig ist. Im Matthäus – Evangelium markiert diese Geschichte einen Wendepunkt. Mit dem Einzug in Jerusalem wurde es ernst.
Der mit seiner Liebe ritt mitten hinein in die aufgewühlte Stadt. Auf dem Rücken eines Esels, als König der Sanftmut. Wahrscheinlich ahnend, dass es ihm an den Kragen gehen könnte. Nur wenige Tage später schrien sie: Kreuzige ihn!
Gerhard Schöne formulierte: Du warst eingemauert; du hast überdauert Lager, Bann und Haft. Bist nicht tot zu kriegen, niemand kann besiegen deiner Liebe Kraft. Wer dich foltert und erschlägt, hofft auf deinen Tod vergebens, Samenkorn des Lebens.
Advent 2024, hier in Dresden, in Deutschland, rund um den Globus. Der König der Sanftmut will bei uns einziehen. Sind wir denn darauf vorbereitet? Das würde einiges verändern – in unseren Gesprächen und Chatgruppen. Wollen wir diesem König die Tür öffnen? Das bedeutet, den sanften Mut in die Stadt zu holen, in meine Straße, in mein Haus. Zu überlegen: wer braucht ein sanftes Wort von mir und wer meinen Mut, wer meinen kraftvollen Einsatz und wer mein tröstendes Wort?
Und heißt manchmal auch, Sand im Weltgetriebe zu sein. Da, wo die Menschenwürde mit Füßen getreten wird. Und dann wieder: die Hand auszustrecken statt Rache zu planen.
Sanftmut unter uns. Da erwachen Träume zum Leben. Menschen sprechen wieder miteinander, die dies jahrelang nicht taten. Hier bei uns, in meinem Dorf, in meinem Viertel. Auf der Treppe. Über den Gartenzaun. Teilen etwas Zeit. Lächeln sich an. Verschenken eine Kerze… Bei Gerhard Schöne lautet die dritte Strophe: Jesus, Freund der Armen, groß ist dein Erbarmen mit der kranken Welt. Herrscher gehen unter, Träumer werden munter, die dein Licht erhellt. Und wenn ich ganz unten bin, weiß ich dich an meiner Seite, Jesu, meine Freude. – Komm, sanfter König, komm zu uns! Wir brauchen dich. Amen.