Chicago, November 2017

Liebe Mitglieder der Kirchgemeinde »Maria am Wasser«,

mein Name ist Charlotte Kaiser, im Sommer habe ich am Kreuzgymnasium das Abitur abgelegt und schon lange zuvor darüber nachgedacht, wie es nach Schul- und Prüfungsstress für mich weitergehen könnte. Auf keinen Fall, das war mir klar, mit einem nahtlosen Übergang zur Universität. Im Leistungskurs Religion habe ich mich in der Oberstufe nicht nur mit jüdischer Religion und ihrem Verhältnis zum christlichen Glauben beschäftigt, sondern auch intensiv mit philosophisch-theologischen Fragestellungen nach Schuld, Vergebung und Versöhnung auseinandergesetzt. In einer kleinen wissenschaftlich angelegten Arbeit, die jeder Schüler über mehrere Monate hinweg in der 10. Klasse bzw. in der Oberstufe schreiben muss, ging ich im Fach Geschichte der Frage nach, ob Menschen, die in der Zeit des Nazi-Regimes jüdische Mitbürger versteckt haben, als Helden zu bezeichnen sind. Ich hatte das große Glück, mit Betroffenen sprechen zu können, die mir sehr unterschiedliche Antworten gaben.

Meinen Interessen folgend, lag es also nahe, dass ich mich für einen zwölfmonatigen Freiwilligendienst bei Aktion Sühnezeichen Friedensdienste (ASF) bewarb, eine Organisation, die ich Ihnen natürlich nicht vorstellen muss und deren jahrzehntelanges Wirken gegen das Vergessen des Holocaust und für den Dialog zwischen Religionen und Völkern im Jahr 2018 ihr 60jähriges Jubiläum feiern wird. Nicht zuletzt erinnerte ich mich auch an die Erzählungen von Frau Pfarrerin Birkner-Kettenacker während des Konfirmandenunterrichtes über die Sommerlager von Aktion Sühnezeichen in der DDR, an denen sie in den 1960er Jahren am Diakonissenkrankenhaus in Dresden teilnehmen konnte. Nach einem umfangreichen schriftlichen Bewerbungsprocedere und einem stringenten Auswahlwochenende für uns Bewerber*innen mit intensiven Einblicken in die Projektarbeit von ASF in 13 Ländern war ich restlos begeistert, im Übrigen auch von den Teamer*innen. Nachdem ich die lang ersehnte Zusage endlich in den Händen hielt, hieß es auf die Suche nach 15 Patinnen und Paten zu gehen, die meinen Friedensdienst mit einem finanziellen Beitrag unterstützen würden. Ich bin außerordentlich dankbar dafür, dass ich den Kirchenvorstand gewinnen konnte, sich für eine Patenschaft unserer Kirchgemeinde »Maria am Wasser« für mich und meinen Friedensdienst zu entscheiden und ich so meinen Friedensdienst als Teil des Versöhnungsprojektes der Gemeinde »Maria am Wasser« verstehen darf!

Vor zweieinhalb Monaten hatte ich nun meinen ersten Arbeitstag am Illinois Holocaust Museum & Education Center in Skokie bei Chicago als Freiwillige von ASF. Davor lagen im September zwei Seminarwochen, zunächst mit zirka 130 Freiwilligen des Jahrgangs 2017/18 in Hirschluch/Brandenburg, dann mit meinen 21 USA-Mitfreiwilligen in Philadelphia. Tage, die ausgelastet waren mit Diskussionsrunden über Diskriminierung, Holocaust, über die bevorstehenden Bundestagswahlen in Deutschland und die Politik der USA, über den palästinensisch-israelischen Konflikt. Dazwischen der bewegende Entsendegottesdienst von Landesbischof Dr. Markus Dröge, den ich mit drei anderen Freiwilligen in der Evangelischen St. Marienkirche in Berlin erleben konnte und die sehr emotionale Verabschiedung von meinen Lieben am Flughafen in Berlin-Tegel. Denn auch wenn mein Wunsch nach einem Freiwilligendienst mit ASF im politisch-historisch-kulturellen Bildungsbereich sehr groß war, sollte der Einsatzort doch nicht unbedingt über 7000 Kilometer von zu Hause entfernt liegen. Und ehrlich gesagt, waren die USA von den vier Wunschländern, die die Bewerber*innen angeben konnten, das von mir am wenigsten Gewünschte.

Erste Ruhephase dann schließlich auf der Zugfahrt von Philadelphia nach Chicago – 25 Stunden in Polstern, die mindestens doppelt so breit sind wie die der Deutschen Bahn, rasant vorbeiziehende Landschaften mit Wäldern und Bergen, die ein erstes vages Gefühl von der Größe dieses Landes aufkommen lassen. Ankunft in Chicago: Atemberaubende Architektur vor der sich der berühmte Michigan wie ein Meer auftut. Doch bis Anfang November wohne ich zunächst bei einem sehr netten älteren Gastehepaar im wohlsituierten Vorort Skokie, bevor ich in eine WG nach Chicago/Uptown umziehe. Vorort meint: zwei Stunden Fahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln nach Downtown – ich lerne, dass ich meine Zeitplanung einer mir bisher völlig unbekannten Dimension anpassen muss. Dafür ist das Museum für mich zunächst fußläufig zu erreichen. Allerdings muss ich mich vor den „Skunks“ in Acht nehmen, die hier ohne Scheu herumschleichen. Linda und John begrüßen mich mit dem Satz: „Du gehörst jetzt zur Familie. Bitte richte deinen Eltern aus, dass wir gut auf dich aufpassen werden.“ Große Erleichterung auf beiden Seiten des Ozeans. Erste Instruktionen, wohin ich mich in Chicago keinesfalls zu begeben habe. Ich beziehe das Zimmer eines der beiden nicht mehr bei den Eltern lebenden erwachsenen Söhne und schäme mich ein bisschen für den außergewöhnlichen Komfort, den ich in meinem neuen Zuhause im Gegensatz zu anderen Mitfreiwilligen genießen darf. Anders als ihr Ehemann John ist Linda Jüdin, sie gehört zu den „docents“ des Museums, das bedeutet, sie führt seit vielen Jahren ehrenamtlich Schulklassen und Gruppen durch die Ausstellungen. In den ersten Wochen bei Linda und John lerne ich, dass Jüdisch sein durchaus eine ethnische Zugehörigkeit meinen kann, weniger die Religiosität. Linda lebt säkularisiert, in ihrem Haushalt entdecke ich keine Zeremonialgegenstände. Auch zum hohen jüdischen Neujahrsfest, das im Oktober mit Rosh Haschana beginnt und zehn Tage später mit Jom Kippur im Tag der Versöhnung gipfelt, geht sie in diesem Jahr nicht in die Synagoge. Aber trotzdem fastet Linda traditionell an Jom Kippur, und ich erlebe nach Sonnenuntergang eine Feier mit etwa 30 Angehörigen als großes Familienfest, bei dem mit Äpfeln und Honig das Fasten gebrochen wird, denn das neue Jahr soll mit etwas Süßem beginnen. Das finde ich einfach schön.

Das Illinois Holocaust Museum ist mit seiner über 20.000 Quadratmeter großen Ausstellungsfläche überwältigend, bedrückend, viele würden wohl sagen, typisch amerikanisch (aber was ist das überhaupt: typisch amerikanisch – eine dramatisch, beinahe theatralische Inszenierung?). Interessant ist für mich, dass die Thematik des Holocaust durchaus anders als in Deutschland vermittelt wird. Um den Besuchern eine emotionale Verbindung zu ermöglichen, werden viele persönliche Schicksale dargestellt. Auch die Didaktik der Dauerausstellung ist anders angelegt als mir aus deutschen Gedenkstätten bekannt. Ob angedeutete Eisenbahnschienen am Boden, ein Raum mit zersplittertem Glas als Symbol für die Reichskristallnacht oder ein zu durchschreitendes Tor mit der Aufschrift „Juden ist der Zutritt verboten“ – der Besucher soll sich so fühlen, als wäre er Teil der Geschichte. Mit diesem Bewusstsein soll er sich selbst befragen, wann es nötig ist die Rolle des „Bystanders“ zu verlassen und zu einem „Upstander“ zu werden. Neben der Dauer- und einer Kinderausstellung mit dem Namen „Make a Difference!“ gibt es mehrere temporär wechselnde Ausstellungen. Besonders beeindruckt hat mich die Sonderausstellung „How it is, but how it should be“ (So ist es, aber, so soll’s sein), in der ein selbstgestaltetes Buch der deutschen Künstlerin Trudl Besag aus dem Jahre 1941 gezeigt wird. Während ihrer Inhaftierung im Internierungslager im französischen Gurs hielt sie mit Kohle und Bleistift Szenen aus dem entbehrungsreichen Lagerleben fest und stellte jeder Sequenz ein hoffnungsvolles Pendant aus einem Alltag in Freiheit gegenüber. Die Zeichnungen sowie die dazugehörigen Reime tragen den Duktus eines Kinderbuches. Eine künstlerische Ausdrucksweise, die in allem Elend die Hoffnung bewahrt und das kindliche Urvertrauen in ein friedliches, ja idyllisches Leben nicht aufgibt – das hat mich sehr berührt.

Mein Mitfreiwilliger Balthasar und ich haben täglich die Möglichkeit, an Führungen durch das Museum teilzunehmen. Diese werden ausschließlich von ehrenamtlichen Mitarbeitern geleitet, welche ganz unterschiedliche Motivationen und Hintergründe für ihr Engagement haben. Darunter sind auch viele, die der zweiten oder dritten Generation der Shoah-Überlebenden angehören. Die Bundestagswahl war natürlich auch hier in Chicago ein großes Thema. Nicht ohne Grund titelte die Chicago Tribune auf Seite 2: „Far-right rises in Germany, but to what end?“, mit Alexander Gauland und Alice Weidel groß im Bild. In Skokie wohnen nicht nur viele jüdische Menschen, sondern auch hochbetagte Holocaust-Überlebende. Sie kommen täglich ins Museum, um im Anschluss an jede Führung in ebenfalls ehrenamtlichen Zeitzeugen-Gesprächen über ihre für uns so unfassbaren, bedrückenden Lebensgeschichten und das Schicksal ihrer Familien zu berichten. Bei Unterhaltungen mit ihnen spüre ich ihre Sorge über die Entwicklung in Deutschland. Ich empfinde es als Gratwanderung zu erklären, dass der Großteil der deutschen Bevölkerung trotz des Ausgangs der Bundestagswahl offen und tolerant ist, ohne dass ich aber die Bedeutung des Wahlergebnisses relativieren oder kleinreden will. Ich lerne, einen Erklärungsnotstand auszuhalten ist schwierig, besonders vor dem Hintergrund deutscher Geschichte, die mir jetzt durch Gesichter, durch Menschen, die ich persönlich sprechen und kennenlernen darf, sehr nahe kommt.

Doch über meine Arbeit und meine Eindrücke im Education Center des Holocaust-Museums werde ich in der nächsten Ausgabe des Gemeindeblattes ausführlich schreiben. Aber einen Moment möchte ich schon jetzt mit Ihnen teilen: Am 29. Oktober saß ich gemeinsam mit 65 Besuchern des Museums in einem kleinen Kinosaal, welcher Hauptbestandteil der an diesem Tag eröffneten Ausstellung „Take a Stand Center“ ist. Nachdem sich der Saal langsam verdunkelt, erscheint auf der Leinwand vor uns das dreidimensionale Abbild der Holocaust-Überlebenden Fritzie Fritzshall. „I have so much to tell you, so please ask me questions“, fordert es uns auf. Eine Dame geht zum Mikrophon: „Can you describe your feelings in the concentration camp?“. Frietzies Abbild antwortet prompt. Gemeinsam mit der USC Shoah Foundation entwickelte das Illinois Holocaust Museum eine weltweit neue, einzigartige Technologie: Die Besucher haben die Möglichkeit, 13 verschiedene Hologramme von Zeitzeugen zu erleben. Diese 3D-Projektionen treten in unmittelbare Interaktion mit dem Publikum und können auf jegliche Fragen antworten.

Fritzie Fritzshall wurde 1929 in dem kleinen Dorf Klucharky in der Tschechoslowakei geboren. Nachdem die Nazis ihre Heimat okkupiert hatten, wurde sie mit ihrer Familie nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Damals war sie erst 13 Jahre alt und überlebte das Unfassbare. 1946 emigrierte sie schließlich in die USA. Heute ist sie Präsidentin des Illinois Holocaust Museums und ihr Schicksal nun auch als Hologramm-Projektion für alle nachfolgenden Generationen festgehalten. Fritzis dreidimensionales Abbild, das vor uns sitzt, hört aufmerksam zu, nickt dem Fragesteller zu, lächelt gelegentlich, scheint manchmal den Tränen nahe zu sein und beantwortet dabei jede von den Zuschauern live gestellte Frage nach dem Schrecklichsten und Grauenvollsten mit einer warmen Stimme. Als dann plötzlich die „echte“ Fritzi Fritzshall den Saal betritt und zu ihrer Projektion hinaufblickt, kann und will ich meine Tränen nicht mehr zurückhalten. Diese von großem medialem Interesse begleitete Ausstellung mit ihrer neuen, atemberaubenden Technologie bildet einen Meilenstein im Umgang mit Zeitzeugeninterviews im musealen Rahmen. Sie bereitet uns auf den Tag vor, an dem kein Überlebender der Shoah mehr unter uns sein wird und unsere Fragen in einem Zeitzeugengespräch beantworten kann. Mit Hilfe der Hologramme gelingt es, die Geschichten und Erinnerungen trotzdem weiterleben, ja überleben zu lassen.

Inzwischen lerne ich auch weiter auf alltäglichem Terrain, dass beim Einsteigen in den Bus laut und vernehmbar zu grüßen ist, und der Gruß tatsächlich auch erwidert wird, dass die Frage nach dem Weg meist in einem Gespräch über Gott und die Welt und die eigene Familie endet. Ich lerne, dass der von mir so gefürchtete Smalltalk durchaus von Vorteil sein kann. Ich lerne die historische Bedeutung von Obamas Health Care persönlich kennen: Ein vereiterter Finger zwingt mich zum Arzt. Statt der Gesundheitskarte zücke ich meine Kreditkarte und bin glücklich über die entsprechende Krankenversicherung. Trotzdem fast Atemstillstand beim Blick auf die Rechnung. Die Differenz zwischen der Größenordnung der Honorarnote ohne chirurgischen Schnitt und meinem kleinen vereiterten Daumen lässt mich an den letzten Ausflug zum Willis Tower im Chicagoer Loop denken. Ich stehe am South Wacker Drive, fühle mich winzig und schaue auf 527 Meter schwindelerregende Höhe, die knapp unter den Wolken zu enden scheint. Und ich lerne, dass man am weitläufigen Montrose Beach durchaus auf Vertrautes treffen kann. In meinem Falle in Gestalt eines Eismanns, der auf einem Fahrrad mit Kühltaschen an den Seiten die Glocke schwingt. Ein Bild mit Klang, wie ich es an meinem Lieblingsstrand auf dem Darß jedes Jahr sehnsüchtig erwartet habe. Heimatgefühle. Ich liebe Chicago, meine Kollegen*innen lachen und warnen: „Warte bis der Winter kommt!“.

In diesem Sinne grüße ich sehr herzlich aus der Windy City, die mich allmählich nicht mehr an ihrem Namen zweifeln lässt und wünsche Ihnen eine gesegnete Adventszeit! Das Hosterwitzer Krippenspiel, in dem auch ich vor einigen Jahren mitwirken durfte, werde ich am Heiligen Abend auf jeden Fall vermissen.

Shalom, Ihre Charlotte Kaiser

PS:
Wenn Sie mehr über die Arbeit von Aktion Sühnezeichen Friedensdienste lesen möchten: www.asf-ev.de